Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Diggs genauer an, jetzt, wo ich wusste, wer er war, oder mir zumindest ziemlich sicher war. Hellbraunes Haar, wie das von Morris Slade, und eine Haut so zart wie das Mandeldessert meiner Mutter. Bei einem Mann war so eine Haut komplette Verschwendung. Es war ein weiches Gesicht, ein Mädchengesicht.
»Das verwöhnteste Mädchen, das mir je begegnet ist«, hörte ich Miss Flagler einmal über Imogen Woodruff sagen. » An der war alles verwöhnt. Sogar ihr Gesicht.«
Ein hübsches, verwöhntes Gesicht. Als ob sich an Morris Slades Gesicht jemand zu schaffen gemacht, es verzerrt hätte.
Will machte bloß eine ruckartige Kopfbewegung in meine Richtung. Er schaute auf etwas hinunter, an dem er gerade herumschnitzte. »Ralph hilft mir bei der Inszenierung.«
Du meinst Raphael . Ich hätte es zu gern gesagt, verkniff es mir aber natürlich.
Ralph Diggs’ Blick wurde eisig. Vielleicht täuschte es ja auch nur. Ich hoffte, es lag nicht daran, dass er meine Gedanken lesen konnte.
Er lächelte – »einnehmend«, würde man es wohl nennen. »Hallo, Emma.«
Ich erwiderte sein »Hallo« aber nicht, sondern probierte mein eigenes einnehmendes Lächeln aus, das vermutlich überhaupt nicht einnehmend, sondern einfach schief war.
»Und wie?«
»Er zaubert. Hab ich dir doch gesagt.«
»Du bist der Zauberer?«
Ich bemühte mich, gänzlich unbeeindruckt zu klingen.
Er nickte.
»Was für Zaubersachen machst du denn?«
»Nichts Außergewöhnliches. Ich bin ziemlicher Amateur.» Er lachte abgehackt.
»Na, dann bist du hier richtig.» Ich lachte ebenfalls abgehackt. »Kannst du dich verschwinden lassen?«
Ralph schaute mich unsicher an. Dann machte er einen Schritt auf mich zu, fuhr mit einer flinken, geschickten Handbewegung hinter mein Ohr und zog eine Vierteldollarmünze hervor. »Was ist denn das?» Er tat ganz überrascht.
Ich sollte mich nun wohl freuen und überrascht sein. Dass ich überrascht war, gebe ich gern zu, bemühte mich aber, es ihm nicht zu zeigen. Wie er denn das gemacht hätte, fragte ich ganz ruhig.
Er schüttelte listig den Kopf. »Tut mir leid.«
»Hinter meinem Ohr war gar keine Münze, wenn du also eine gefunden hast, heißt das, die hast du da hingetan.«
Will musterte mich nun doch interessiert. »Wie hat er sie hingetan?«
»Als er hingegriffen hat, um sie angeblich dort zu finden.«
»Ich hatte doch gar nichts in der Hand.«
»Aber klar doch. Du hast wahrscheinlich genauso geschickte Hände wie Mill.« Ich deutete zum Klavier hinüber, wo Mill inzwischen eine Melodie spielte, zu der sich die Tree-Mädchen im Kreis drehen konnten. »Der Vierteldollar war irgendwo versteckt. Den hast du in der Hand verschwinden lassen.«
»Die hat doch keinen blassen Dunst, wovon sie redet.« Will schnippelte wieder wie vorhin an irgendetwas herum.
»Ich muss los.«
»Bye, bye, Emma«, rief er noch, als ich schon an der Tür war.
Sein »Bye, bye« erwiderte ich ebenfalls nicht.
Fast freute ich mich darauf, Aurora ihren Tee hinaufzubringen. Wir hatten ganz schön was zu bereden.
Rafe Slade.
Mir war immer noch nicht klar, was er hier im Hotel eigentlich wollte. Wieso war er nicht drüben bei den Woodruffs? Außer er wollte einen bestimmten Zeitpunkt abpassen, um sich mit Morris Slade zu treffen. Das erklärte aber trotzdem nicht, wieso er hier in der großen Garage mit einer Bande Kinder rumhing.
Morris Slade und Ralph Diggs! Morris Slade und sein Sohn. Dass beide zur selben Zeit in Spirit Lake auftauchten, war bestimmt kein Zufall.
Oder ging meine Fantasie einfach mit mir durch?
Draußen vor der Küchentür blieb ich stehen. In einem war ich mit Will endlich einer Meinung: Ich hatte keinen blassen Dunst, wovon ich redete.
42. KAPITEL
Es war nach fünf, und Lola Davidow war entweder in der Küche, um eine Karaffe Martinis zusammenzurühren, oder aber im hinteren Büro, um sie zu trinken. Ich schaute zuerst im Büro nach. Es war leer. Ich schnappte mir eine Flasche Whiskey und schlüpfte wieder hinaus, um den Empfangstresen herum und über den Korridor zur hinteren Tür. Dann über den Holzplankenweg zur Küchentür. Ich schaute nach, was für eine Flasche ich mir eigentlich geschnappt hatte: hochprozentigen Whiskey namens »Apple Hollow«, laut Etikett »im Fass gereift«. Na, ganz bestimmt!
Ich rief Walter ein »Hallo« zu und ging an den Kühlschrank, um ein paar Eiswürfel zu holen. Darüber goss ich eine ordentliche Menge Whiskey und krönte das Ganze mit Apfelsaft. Obendrauf streute ich
Weitere Kostenlose Bücher