Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Hauptmerkmal darin bestand, dass das Leben der Menschen so losgelöst von allem war. Es war einsam, es war still, es war auf dem Weg nach Nirgendwo, trotz seiner berühmten Bahnstation. Manchmal dachte ich, Cold Flat Junction schwebte, ohne Verbindung zu irgendwas, einfach so in meinem Kopf herum. Doch es hatte nicht diese seltsame Atmosphäre wie Rawlins. Rawlins fühlte sich eher hinterwäldlerisch an – war es ja eigentlich auch, denn es lag da, wo die Landstraße von Hebrides sich allmählich verlief.
Die Blackbird Road war eine baumlose Straße, an der bloß ausgedünnte Hecken die Grundstücke auswiesen und die dunklen Schindelhäuschen wie Spicknelken verstreut standen. Nummer 14 befand sich ganz am Ende.
Es war ein einstöckiges Haus mit braunen Schindeln, zu dessen schattiger, von weißen Säulen gesäumter Veranda ein schmaler Gehweg hinaufführte. Seitlich entlang waren schmale Reihen von roten und orangegelben Geranien gepflanzt.
Ein Mann saß auf der Veranda, und ich überlegte, ob es wohl Carl Mooma war, der da in einem Schaukelstuhl ganz in der Ecke hinten saß und eine dicke Zigarre schmauchte.
»Na«, sagte er in recht freundlichem Tonfall.
»Sheriff Mooma?«
Er lachte, ein trockener, gepresster Ton, als widerstrebte seinem Brustkorb die Anstrengung. »Das ist ja schon lang her, dass mich jemand so genannt hat.« Der Schaukelstuhl knarrte ein wenig, als er sich vorbeugte, um mich besser sehen zu können. »Scheinst mir ja ein bisschen jung für jemand, der einen Sheriff sucht.«
Ich ging die drei hellbraun melierten Stufen hoch. »Mein Name ist Emma Graham, ich wohne in Spirit Lake. Ich wollte anrufen, konnte aber keine Nummer finden.«
»Telefon hab ich keins. Ruft ja kaum jemand an.« Er neigte den Kopf nach rechts. »Beim Nachbarn kann man eine Nachricht für mich hinterlassen.«
»Ach so. Dann haben Sie von Ihrem Neffen Donny noch nichts gehört wegen des Interviews?«
»Nein, meine Liebe. Von Donny hab ich nichts gehört, aber der war ja noch nie der Zuverlässigste. Geh, setz dich doch.« Er deutete auf den Schaukelstuhl neben seinem.
Ich überlegte, ob ich Donny verteidigen sollte, denn es war ja noch nicht lang her, dass ich mit ihm geredet hatte. Doch ich hielt mich zurück. Carl Mooma war ganz anders als erwartet. Aber dann fiel mir wieder ein, dass meine Informationen hauptsächlich von Aurora Paradise stammten, und die verteilte ihre Komplimente ja eher spärlich.
Ich setzte mich. Wir schaukelten. Alles war auf eine etwas bekümmerte Weise friedlich. Ich schaute auf die Blackbird Road hinaus und spürte die Trostlosigkeit dieses Orts. Hier landete man, wenn man sich nicht äußerst gut vorsah. Ich hatte keinerlei Zweifel daran, dass ich mal hier landen würde, denn vorsehen tat ich mich ja nun gar nicht.
Die Blackbird Road. Unweigerlich hielt ich Ausschau, ob etwas über den Himmel wirbelte, doch da war nichts. Der Himmel war wolkenlos, eine glatte, schiefergraue Fläche.
»Also, was ist denn das für ein Interview?«
Ich erklärte die Geschichte, die ich gerade schrieb, die Serie von Mordfällen, die Entführung, ja dass ich meiner eigenen Ermordung knapp entgangen war.
»Heiliger Strohsack! Ich wollt schon sagen, du bist ziemlich jung für eine, die für die Zeitung schreibt und nach einem Sheriff sucht, hast aber ja schon einen Haufen Lebenserfahrung.«
»Schon«, meinte ich bescheiden.
Immer wieder schüttelte er den Kopf und redete was von Strohsack. Ich überlegte, was der wohl damit zu tun hatte.
»Okay, dann hat Donny dir also erzählt, ich schreib an meiner – was? –, an meinen ›Memoiren‹?« Er lachte. »Na ja, ist ja nicht das erste Mal, dass Donny leeres Stroh drischt. Wir haben mal drüber geredet, da meinte er, ich soll das doch machen, diese mutmaßliche Entführung des armen Slade-Kindchens aufschreiben. Dann könnte er doch mein Agent sein, und es gäbe Verleger, die einem gegen eine Gebühr die Bücher drucken. ›Wer hat denn das Geld dafür?‹, frag ich ihn. Und er: ›Keine Sorge, die Summe kann ich runterhandeln.‹ Ich sag: ›Wen denn runterhandeln?‹ Und er: ›Na, die Verleger natürlich. Da gibt’s welche, die einem das Buch drucken und es dann verkaufen.‹ Der redet, als wär’s eine abgemachte Sache.«
Ich lachte. Carl Moomas Art zu reden gefiel mir. »Sie können wirklich gut reden, Mr Mooma. Sie könnten bestimmt gut ein Buch schreiben. Vielleicht sollten Sie’s mal probieren.«
Er lächelte. Er hatte einen Quadratschädel
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