Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
ziemlich clever, wenn du darauf gekommen bist.«
»Nicht ich, sondern jemand anders.« In dem Moment wusste ich zwar nicht, wer, es war aber auch egal. Ich wollte einfach mit der Geschichte weiterkommen. »Und dann?«
Er fing wieder an zu schaukeln. »Da kam dann dieser junge Bursche namens Robby Stone ins Spiel. Er arbeitete dort als Kellner und als Page. Ich glaube ja, Woodruff und seine Tochter haben ihm Geld gegeben, damit der das Baby wegschafft. Robby Stones Wagen hat man dann auf der anderen Seite der Grenze gefunden, in Pennsylvania. Ein Unfall, ganz schlimm. Der Junge ist umgekommen. Ob das Baby aus dem Auto geschleudert wurde oder gar nicht im Auto war, als es passiert ist, werden wir nie wissen.« Er schaute mich sinnierend an. »Warum erzähl ich dir das eigentlich alles? Damit du es in der Zeitung verbreitest? Vielleicht, weil du so verdammt harmlos aussiehst. Entschuldige.«
Es war nett, mal für harmlos statt für gefährlich gehalten zu werden. »Bin ich auch. Ich werd nur das erzählen, was Sie wollen. Wir sind ja jetzt unter uns. Hätte es denn sein können, dass er das Baby irgendwo hingebracht hat? Was vielleicht auch vorher schon arrangiert worden war?«
»Klar, hätte er können. Er hatte bis dahin im Belle Ruin gearbeitet, ging dann weg. Woodruff hat ihn dafür bezahlt, dass er das Baby mitnimmt.«
»Und es gab nie eine Spur von ihr. Sie könnte aber doch noch irgendwo am Leben sein.«
Carl Mooma starrte mich erstaunt an. »Sie? Es war aber kein Mädchen, es war ein Junge.«
»Was?« Ich spürte plötzlich den Regen wie Eis auf meiner Haut. »Sie hieß doch aber ›Fay‹. Das stand in dem Polizeibericht. Den hab ich gesehen, als …« Als ich den Ordner aus dem Büro des Sheriffs geklaut habe. Das wollte ich aber nicht hinzufügen.
Er lächelte. »Ja, hm, in dem Punkt haben sich viele geirrt. So hieß er ja auch, bloß wurde es F-e-y buchstabiert. Eine Art Kosename. Der Kleine war nach seinem Urgroßvater benannt, der hieß« – er betrachtete das Verandageländer – »Raphael?«
Ich konnte ihm nicht antworten. Mein Mund war trocken. Raphael.
41. KAPITEL
Zurück ins Hotel konnte ich bei Carl Mooma mitfahren, weil der um etwa sechs Uhr in La Porte sein musste. Er hatte Donny versprochen, sich mit ihm zum Abendessen und danach noch auf ein paar Bier zu treffen.
Ich war so verdattert, dass ich nicht reden konnte, und bat Mr Mooma, mich unten an der Hotelauffahrt rauszulassen, denn damit sparte er sich etwas Zeit.
»Wenn du mal wieder in der Gegend bist, komm doch vorbei.« Er tippte sich an seine Schildmütze und fuhr davon.
In einer Wolke aus Staub und Kies stand ich da, bis sein Pick-up um eine Kurve verschwunden war. Dann rannte ich die Auffahrt hoch.
Ausnahmsweise fand ich es schade, dass Ree-Jane nicht vorn auf der Veranda war und sich produzierte, denn dann wäre Ralph Diggs bei ihr gewesen. Vorab konnte ich ihn wohl so nennen. Ralph Diggs. Rafe Diggs. Raphael Slade. »Fey« Slade.
Die Zeitungen hatten das verschwundene Baby »Fay« genannt, und darum nahmen natürlich alle an, es wäre ein Mädchen. Ich dachte an Gloria Spiker: Die hatte »sie« gesagt, wenn sie von dem Baby sprach. Dass man sie angewiesen hatte, »sie« nicht zu wecken. Oder hatte sie vielleicht doch »es« gesagt? Hatten die Eltern eigentlich »sie« gesagt, oder hatten sie »Fey« gesagt?
Ich machte mich auf die Suche nach ihm, obwohl mir nicht klar war, was ich täte, wenn ich ihn gefunden hatte. Als Erstes schaute ich in seinem Zimmer nach. Dort war er nicht, und ich widerstand der Versuchung, mich ein bisschen umzusehen. Über die hintere Treppe ging ich in die Küche und fragte Walter, ob er vielleicht Ralph gesehen hatte.
»Oben in der großen Garage hab ich ihn gesehen.«
Die Tür stand offen, aber nicht ganz, nicht einmal halb. Eher ein Viertel. Dass ich sie überhaupt offen vorfand, war aber schon eine günstige Fügung. Ich ging hinein. Die Tree-Mädchen mit ihren schlenkernden Satinschläppchen waren wieder da. Die eine diesmal im Ballettröckchen, rosafarben wie die Schläppchen. Die andere, ganz normal in Rock und Pullover, musterte ihre Schwester ganz neidisch, während sie beide dahinwirbelten. Wahrscheinlich war sie sauer, dass sie kein Ballettröckchen hatte. Ich hätte ihr sagen können, dass ihre Schwester darin ziemlich dämlich aussah, sie sich also nichts draus machen sollte.
Er stand da und redete mit Will und Mill und schien sich wie zu Hause zu fühlen. Ich schaute mir Ralph
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