Das Versprechen
Oz.«
»Doch. Ist er wohl. In dem Holzkasten. Und jetzt wird’s dunkel. Bestimmt hat er Angst. Das ist nicht richtig, Lou.«
»Er ist nicht in diesem Kasten. Er ist jetzt bei Gott. Die sitzen da oben, schauen zu uns runter und reden über uns.«
Oz blickte zum Himmel. Seine Hand hob sich, als wollte er winken; dann aber hielt er verunsichert inne.
»Wink ihm ruhig, Oz. Er ist da oben.«
»Schwör es. Auf Ehre und Gewissen.«
»Alles, was du willst. Nun wink schon.«
Oz tat wie geheißen und grinste ein wenig geziert.
»Was ist?«, fragte seine Schwester.
»Ich weiß nicht. Fühlt sich irgendwie gut an. Glaubst du, er winkt zurück?«
»Na klar. Und auch der liebe Gott. Du weißt doch, wie Pa ist. Der erzählt jedem seine Geschichten. Die beiden haben sich bestimmt schon angefreundet.«
Lou winkte nun auch, und als ihre Finger sich auf das kühle Fensterglas zubewegten, machte sie sich für einen Augenblick vor, dass sie selbst an das glaubte, was sie soeben ihrem Bruder vorgeflunkert hatte. Und sie fühlte sich tatsächlich besser dabei.
Seit Jacks Tod hatte der Winter beinahe vor dem Frühling kapituliert. Lou vermisste ihren Vater Tag für Tag mehr, und in ihrem Innern breitete sich mit jedem Atemzug eine gewaltige Leere aus, dehnte sich ins Unermessliche. Ach, wenn ihr Vater doch lebend und gesund wäre! Und bei ihnen. Aber das war unmöglich. Ihr Vater war ein für alle Mal von ihnen gegangen. Ein Gefühl unendlicher Qual erfüllte sie. Sie schaute zum Himmel empor.
Hallo, Dad. Bitte vergiss mich nie, denn auch ich werde dich nie vergessen. Lou formte die Worte unhörbar für Oz. Als sie endete, glaubte sie weinen zu müssen, doch sie konnte es einfach nicht - nicht, wenn Oz dabei war. Wenn sie weinte, würde höchstwahrscheinlich auch ihr Bruder in Tränen ausbrechen, und das womöglich für den Rest seines Lebens.
»Wie fühlt es sich wohl an, tot zu sein?« Oz starrte in die Nacht hinaus, als er die Frage stellte.
Es dauerte eine Weile, bis Lou ihm antwortete. »Na ja, wenn man tot ist, fühlt man wohl gar nichts mehr. Aber auf eine ganz andere Art fühlt man dann doch irgendwie alles. Alles, was gut ist. Wenn man ein anständiges Leben geführt hat, versteht sich. Wenn nicht ... na, du weißt ja.«
»Die Hölle?«, fragte Oz, und als er das schreckliche Wort aussprach, lag das ungeschminkte Grauen in seinem Blick.
»Du brauchst keine Angst davor zu haben. Und Dad sowieso nicht.«
Oz’ Blick wanderte weiter, bewegte sich zögernd, aber stetig auf Amanda zu. »Wird Mom auch sterben?«
»Wir alle sterben eines Tages.« Lou wollte diesmal nichts beschönigen, nicht einmal für Oz, doch sie drückte ihn an sich. »Aber eins nach dem anderen. Wir haben noch ’ne Menge vor.«
Lou starrte hinaus, während sie ihren Bruder in den Armen hielt. Nichts galt für ewig, das wusste sie genau.
KAPITEL 5
Es war noch sehr früh am Morgen. Die Vögel waren gerade erst erwacht und schüttelten ihre Flügel auf. Kalte Dunstschleier stiegen vom warmen Boden empor, und die Sonne zeigte sich vorerst nur als glühender Strich am östlichen Horizont. Sie hatten in Richmond Halt gemacht, wo die Lokomotive gewechselt worden war; dann hatte der Zug das Shenandoah Valley mit seinem fruchtbaren Boden und dem milden Klima durchquert, das dort praktisch alles wachsen ließ. Doch nach und nach wurde dieser Winkel des Landes schroffer.
Lou hatte nur wenig geschlafen, denn sie hatte sich mit Oz die harte Bank geteilt, und ihr Bruder war in der Nacht sehr unruhig gewesen. In einem schaukelnden Zug unterwegs in eine neue, beängstigende Welt ... das hatte den schlafenden kleinen Kerl in eine wahre Wildkatze verwandelt. Lous Arme und ihr Oberkörper waren mit blauen Flecken übersät, denn Oz hatte im Schlaf um sich geschlagen, obwohl die große Schwester ihn fest im Arm gehalten hatte; ihre Ohren waren taub von seinen Schreien, obwohl sie ihm beruhigende Worte zugeflüstert hatte. Schließlich war Lou mit bloßen Füßen auf den kalten Abteilboden gestiegen, im Dunkeln zum Fenster gestolpert, hatte die Vorhänge zurückgezogen und war mit einem ersten Blick auf einen Berg in Virginia belohnt worden.
Jack Cardinal hatte seiner Tochter einmal erzählt, die Berge in dieser Gegend seien tatsächlich die Folge von zwei geologischen Aufwerfungen. Die erste sei vor Millionen von Jahren durch das Zurückweichen des Urmeeres und die Schrumpfung des Kontinents gebildet worden und habe sich zu einer gewaltigen Höhe
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