Das Versprechen
entlassen. Das schloss sogar eine Krankenpflegerin mit ein, die sie begleitete, um eine gewisse Zeit mit ihnen in Virginia zu bleiben und für Amanda zu sorgen.
Unglücklicherweise schien die in Dienst gestellte Pflegerin es als ihre Pflicht zu betrachten, nicht nur ein Auge auf ihre Mutter zu haben, sondern auch als Erzieherin widerspenstiger Kinder auftreten zu müssen. Kein Wunder also, dass Lou und die Frau einander von Anfang an nicht hatten ausstehen können. Lou und Oz beobachteten, wie die hoch gewachsene, knochige Frau sich mit ihrer Patientin beschäftigte.
»Könnten wir eine Weile mit ihr alleine sein?«, fragte Oz schließlich leise. Für ihn war die Pflegerin ein Mittelding aus Giftschlange und böser Fee; sie jagte ihm eine Heidenangst ein.
Es kam Oz so vor, als könne die Hand der Frau sich im nächsten Augenblick in ein Messer und er, Oz, sich in das einzig mögliche Ziel der Klinge verwandeln: Das Märchen von Hänsel und Gretel war somit nicht der einzige Grund für die schreckliche Vorstellung gewesen, einer Hexe in die Hände zu fallen. Oz hegte keine große Hoffnung, dass die Pflegerin seiner Bitte folgen würde, doch überraschenderweise tat sie es.
Als die Frau die Tür des Abteils ins Schloss gleiten ließ, schaute Oz seine Schwester an. »Ich glaube, die ist doch nicht so übel.«
»Von wegen, Oz. Die will nur eine rauchen.«
»Woher weißt du, dass sie raucht?«
»Wegen der Nikotinflecken an ihren Fingern. Außerdem stinkt sie nach Zigarettenqualm; hast du es nicht gerochen?«
Oz setzte sich neben seine Mutter, die in einer der unteren Kojen lag. Die Arme waren über der Brust gekreuzt, die Augen geschlossen, und ihr Atem ging leise, aber zumindest atmete sie.
»Wir sind’s, Mom. Ich und Lou.«
Lou schaute verärgert drein. »Oz, sie kann uns nicht hören.«
»Und ob sie kann!« In den Worten des Jungen lag eine Aggressivität, die Lou erschreckte, da sie sein Wesen zu kennen glaubte. Sie verschränkte die Arme und wandte den Blick ab. Als sie Oz’ wieder anschaute, hatte der ein kleines Kästchen aus seinem Koffer genommen und es geöffnet. An der Halskette, die er daraus hervorzog, hing als Anhänger ein kleiner Quarzstein.
»Oz, bitte«, beschwor ihn seine Schwester, »hörst du auf damit?«
Er beachtete sie nicht und hielt die Kette über seine Mutter.
Amanda konnte essen und trinken, wenngleich sie aus für die Kinder unerfindlichen Gründen ihre Glieder nicht bewegen und nicht sprechen konnte, und ihre Augen öffneten sich nie. Das war es, was Oz am schlimmsten zusetzte, ihm andererseits aber auch die meiste Hoffnung machte. Er war der Ansicht, dass bloß irgendeine Kleinigkeit beseitigt werden müsse - so wie ein Steinchen im Schuh oder ein Pfropfen, der ein Rohr verstopfte. Er musste bloß dieses kleine Hindernis aus dem Weg räumen, und seine Mom wäre wieder bei ihnen.
»Du bist so was von bescheuert, Oz! Hör auf damit!«
Oz hielt kurz inne und schaute seine Schwester an. »Weißt du, Lou, dein Problem ist, dass du an gar nichts glaubst.«
»Und dein Problem ist, dass du an alles glaubst.«
Oz schwang die Kette langsam über seiner Mutter hin und her. Er schloss die Augen und murmelte Worte, die man kaum verstehen konnte und die er wahrscheinlich selbst nicht verstand.
Lou stand dabei und wurde zusehends nervöser, bis sie den Unsinn nicht länger erdulden wollte. »Wenn jemand dich sieht, hält er dich für verrückt. Und weißt du was? Du bist verrückt!«
Oz hielt mit seinen Beschwörungen inne und warf ihr einen bösen Blick zu. »Jetzt hast du alles verdorben. Für diese Behandlung muss es ganz still sein.«
»Behandlung? Was für ’ne Behandlung? Wovon redest du überhaupt?«
»Möchtest du, dass Mom so bleibt, wie sie jetzt ist?«
»Von mir aus. Ist schließlich ihre eigene Schuld!«, schnauzte Lou ihn an. »Hätte sie nicht diesen dämlichen Streit mit Pa vom Zaun gebrochen, wäre der verdammte Unfall nicht passiert.«
Oz war wie betäubt von diesen Worten. Sogar Lou selbst schaute überrascht, dass sie so etwas hatte sagen können. Doch ihr Naturell ließ nicht zu, irgendetwas zurückzunehmen, das sie einmal gesagt hatte.
Keiner der beiden schaute in diesem Augenblick zu Amanda. Hätten sie es getan, wäre ihnen etwas aufgefallen: ein Zucken des Augenlids, das vermuten ließ, dass Amanda ihre Tochter irgendwie gehört hatte - um dann noch tiefer in jenen Abgrund zu fallen, der sie bereits so unentrinnbar gefangen hielt.
Wenngleich die meisten
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