Das Versprechen
draußen.
Nach einer Weile jedoch stand Louisa auf und ging in ihr Schlafzimmer, wo sie einen kleinen Stapel Briefe aus der Kommode nahm. Sie stieg die Treppe zu Lous Zimmer hinauf und stellte fest, dass das Mädchen noch wach war und aus dem Fenster starrte.
Lou drehte sich um und sah die Briefe.
»Was ist das?«
»Briefe, die deine Ma an mich geschrieben hat. Ich möchte, dass du sie liest.«
»Wozu?«
»Weil Worte ’ne Menge über einen Menschen verraten.«
»Worte ändern nichts. Oz kann glauben, woran er will. Aber er weiß es nicht besser.«
Louisa legte die Briefe aufs Bett. »Manchmal tut man gut dran, auch mal auf die Jüngeren zu hören. Könnte man was von lernen.«
Als Louisa gegangen war, legte Lou die Briefe in den alten Schreibtisch ihres Vaters und knallte die Schublade zu.
KAPITEL 15
Lou stand besonders früh auf und ging ins Zimmer ihrer Mutter, wo sie eine Zeit lang beobachtete, wie der Brustkorb der Frau sich gleichmäßig hob und senkte. Lou hockte sich auf die Bettkante, schlug die Decken zurück und massierte und bewegte die Arme ihrer Mutter. Anschließend führte sie längere Zeit mit den Beinen Amandas die gymnastischen Übungen durch, so wie die Ärzte in New York es ihr gezeigt hatten. Lou war gerade damit fertig, als sie bemerkte, dass Louisa sie von der Türschwelle aus beobachtete.
»Wir müssen es ihr so angenehm wie möglich machen«, erklärte Lou. Sie deckte ihre Mutter wieder zu und ging in die Küche. Louisa folgte ihr.
Als Lou einen Kessel Wasser aufsetzen wollte, sagte Louisa: »Ich kann das doch machen, Schatz.«
»Ich hab’s schon.« Lou schüttete Haferflocken in das heiße Wasser und gab etwas Butter aus einem Fetttopf hinzu. Sie nahm die Schüssel mit ins Zimmer ihrer Mutter und löffelte vorsichtig das Essen in ihren Mund. Amanda aß und trank bereitwillig, wenn man ihr einen Löffel oder eine Tasse an die Lippen hielt, obgleich sie nur mit weichem Essen zurechtkam. Doch das war alles, wozu sie imstande war. Louisa setzte sich zu den beiden, und Lou zeigte auf die Ferrotypien an der Wand. »Was sind das für Leute?«
»Mein Pa und meine Ma. Das da bin ich mit den beiden, als ich noch ’n kleiner Köttel war. Und ein paar Verwandte von meiner Ma. War das erste Mal, dass man ’n Foto von mir gemacht hat. Mir hat’s gefallen. Aber Momma hatte furchtbare Angst.« Sie zeigte auf ein anderes Bild. »Das da ist mein Bruder Robert. Ist schon tot. Sie alle sind schon tot.«
»Deine Eltern und dein Bruder waren groß.«
»Liegt in der Familie. Komisch, wie das vererbt wird. Dein Pa war schon über eins achtzig, als er kaum vierzehn war. Ich bin immer noch groß, aber ich war schon mal größer; bin schon ’n bisschen geschrumpft. Du wirst auch mal sehr groß.«
Lou säuberte die Schüssel und den Löffel und half dann Louisa bei der Zubereitung des Frühstücks für alle. Eugene war bereits in der Scheune, und sie beide hörten Oz in seinem Zimmer rumoren.
»Ich muss Oz zeigen, wie man Moms Arme und Beine bewegt«, sagte Lou. »Und er kann mir auch helfen, sie zu füttern.«
»Gute Idee.« Louisa legte eine Hand auf Lous Schulter. »Und? Hast du die Briefe gelesen?«
Lou schaute sie an. »Ich wollte meine Mutter und meinen Vater nicht verlieren. Aber das ist nun mal passiert. Jetzt muss ich mich um Oz kümmern. Und ich muss nach vorn schauen, nicht zurück. Du verstehst das vielleicht nicht«, fügte sie nachdrücklich hinzu, »aber ich kann nicht anders.«
Nach den morgendlichen Hausarbeiten brachte Eugene die Kinder mit Maultier und Kutsche zur Schule und fuhr dann auf die Farm zurück. In alten Saattaschen aus Leinen trugen Lou und Oz ihre gebrauchten Bücher; ein paar Blätter kostbaren Papiers steckten zwischen den Seiten. Jeder von ihnen hatte nur einen dicken Bleistift; Louisa hatte ihnen eingeschärft, ihn nur dann zu spitzen, wenn es unbedingt notwendig sei, und dazu ein scharfes Messer zu benutzen. Die Bücher waren dieselben, mit denen ihr Vater schon gelernt hatte, und Lou drückte sie an die Brust, als wären sie ein Geschenk direkt von Jesus. Außerdem hatten sie ein verbeultes Töpfchen Schweineschmalz sowie Maisbrotbrocken dabei, dazu einen kleinen Topf mit Apfelbuttergelee sowie eine Kanne Milch für den Mittag.
Das Big-Spruce-Schulgebäude war erst ein paar Jahre alt. Es war mit Dollars aus dem New Deal als Ersatz für das alte Gebäude errichtet worden, das über achtzig Jahre am selben Platz gestanden hatte. Das Haus war weiß
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