Das Versprechen der Kurtisane
zahllose Taschen – was den Rest betraf, so musste er auf die Ehrlichkeit seiner Mitspieler hoffen –, stand auf und verließ den Raum ohne jede Eile mit bescheidenen fünfzig Pfund in der Hand.
Auf dem Korridor im dritten Stock gab es ein Fenster zur Straße; ein guter Ort, um sich vom Trubel weiter unten zurückzuziehen und ein paar klare Gedanken zu fassen. Es musste fast drei Uhr sein. Am Himmel verschwammen die Umrisse des Halbmonds im Nebel.
Fünfzig Pfund. Sie steckte die gefalteten Scheine zwischen Hemd und Korsett. Fünfzig plus hundertachtzig machte zweihundertdreißig, in nur fünf Tagen. Hätte sie sich doch schon vor Wochen getraut zu spielen, als Edward sie zum ersten Mal hergebracht hatte! Bei ihrer Scheu geschähe es ihr ganz recht, wenn er des Clubs überdrüssig werden und sich einen anderen Ort zum Spielen suchen würde, wo Frauen keinen Zugang hatten, bevor sie genug gewonnen hatte.
Solche Gedanken führten zu nichts. Noch weniger hilfreich war es, sich die Wahrscheinlichkeit auszurechnen, mit der er ihrer noch vor dem
Beecham’s
überdrüssig werden würde. Nichts als Mutmaßungen, die ihr keinen Anhaltspunkt boten. Daran durfte man gar nicht denken.
Mit dem Zeigefinger fuhr sie die Bleirute zwischen zwei rautenförmigen Glasscheiben entlang. Wenn man jede Raute mittig vertikal und horizontal teilte, konnte man die Dreiecke zu Rechtecken zusammensetzen und so die Größe des Fensters errechnen. Dieses hier, mit sechs Reihen zu vier und fünf Reihen zu drei Rauten, war achtundvierzigmal so groß wie die Fläche einer einzelnen Raute.
Dergleichen Dinge hatte Henry immer mit ihr durchexerziert, bis er Vater endlich zu einem Hauslehrer hatte überreden können. Bis heute konnte Lydia an keinem Bleiglasfenster vorbeigehen, ohne an ihren Bruder erinnert zu werden, und an dessen eifrigen Stolz, wenn er hinter ihr gestanden und zugesehen hatte, wie sie noch schneller als er zum richtigen Ergebnis gelangte.
Sie ließ die Hand an der Scheibe hinabgleiten. Zweifellos hätte er nicht gutgeheißen, in welche Dienste sie ihren Verstand jetzt stellte. Egal. Er hätte zu Hause bleiben sollen, wenn er sich einmischen wollte. Wenn er nicht in den Krieg gezogen wäre, hätte er vermutlich bald mitbekommen, was sich zwischen ihr und Arthur abspielte, und wäre vermutlich eingeschritten, bevor sie einen so folgeschweren Fehler hatte machen können. Dann hätten Mutter und Vater an jenem Tag keinen Grund gehabt, in der Kutsche zu sitzen. Und alles wäre vielleicht ganz anders gekommen.
Lydia wischte sich mit dem Handrücken über beide Wangen. So viel zu sinnlosen Mutmaßungen. Entschlossen wandte sie sich zur Treppe um.
Nach vier Schritten löste sich eine schwarze Gestalt aus den Schatten an der Wand und trat ins Mondlicht. »Auf ein Wort, Miss Slaughter!«
Sie schrak mit klopfendem Herzen zurück. Wie zum Teufel war er hier hochgekommen, ohne dass sie etwas gehört hatte? Und wie lange hatte er ihr schon aufgelauert und sie heimlich beobachtet? Sie atmete tief durch, um ihr klopfendes Herz zur Ruhe zu zwingen und ihm keinen noch größeren Triumph zu gönnen. Sie würde nichts sagen und ihn auch nicht ansehen. Stehenzubleiben und kaum merklich das Kinn zu heben war die einzige Ermunterung, die sie ihm zugestand.
Mehr bedurfte es offenbar auch nicht. »Ich will meine hundertachtzig Pfund zurück«, verkündete er.
Armer, törichter Leutnant, zu sehr an Gehorsam gewöhnt. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte sie und drängte sich an ihm vorbei.
Oder auch nicht vorbei, denn plötzlich war er da, und ohne dass er den Arm ausgestreckt hätte, um sie zu berühren oder festzuhalten, versperrte ihr sein Körper den Weg. Schwarzer Rock. Lederhosen. Wahrhaftig breitschultrig wie eine ausgewachsene Eiche. Sie würde ihm nicht ins Gesicht sehen. Doch diesmal würde sie auch nicht zurückweichen.
Er ebenso wenig. »Verzeihen Sie, dass ich mich nicht klar ausgedrückt habe.« Er sprach leise, jetzt, da die Entfernung zwischen ihnen so gering war. »Sie haben mich vor vier Tagen um hundertachtzig Pfund betrogen. Ich fordere Sie auf, sie zurückzugeben.«
Ein kurzer Anflug von Panik durchfuhr sie, wurde aber sofort von kaltblütiger Empörung abgelöst. »Betrogen?« Sie sprach zu seiner Krawatte, die unübersehbar von einem Fehlen jeglichen geometrischen Bewusstseins zeugte. »Können Sie diese Unterstellung beweisen?«
»Bestreiten Sie sie?« Sein Atem berührte ihre Stirn. Zweifellos wollte er sie mit seiner
Weitere Kostenlose Bücher