Das Versprechen des Architekten
dass mit diesem Nagetierritual aus der Elektrischen Belinda ihre Angst und Sorge in Anbetracht der von ihr erwarteten Gefahren sprach, denen sich ihr Liebhaber schon bald in Gesellschaft von vier Tigerbestien aussetzen würde. Aber mir war auch klar, dass jenes Ritual zugleich als eine Art vorbereitendes Aphrodisiakum fungierte, das Nagelbeißen mobilisierte in ihr, vermutete ich, alle Liebessäfte vor der letzten Nacht mit ihrem Liebsten. Ja, richtig, die zweite Nacht des Zirkus Belinda in der Tourneestation Brünn. Ich zweifelte nicht daran, dass die Nägel an ihrer rechten Hand vom gestrigenAbend schon ganz abgenagt waren, und wenn der Zirkus hier noch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht hängen bleiben würde, hätte sich die Elektrische Belinda auf jenem Stühlchen auf dem Musikpodium den rechten Schuh ausziehen, den Strumpf abstreifen und den Fuß so hoch wie möglich heben und ihm zugleich mit den Nagetierzähnchen entgegeneilen müssen.
Die Musiker kamen vom Vespern zurück, wischten sich noch die protzigen Schnurrbärte ab und grüßten die Elektrische Belinda mit einem leichten Nicken. Und dann war die umzäunte Manege schon bereit, die Musiker verteilten sich auf ihre Plätze und schüttelten Belindas Nägelchen aus ihren Instrumenten, und da drosselte der Rheostat schon die Lichter der farbigen Glühbirnen über den Köpfen der Zuschauer und die Scheinwerfer flimmerten in die Manege und es herrschte absolute Stille: Die Augen aller waren starr auf den vergitterten Tunnel gerichtet, durch den die Tiger hereinlaufen sollten. Und der Kapellmeister nickte dem Orchester zu.
Ich stand vor einem Rätsel, mit dem ich mir nicht zu helfen wusste. Als ich vor Beginn der Vorstellung so gründlich ich konnte alles, was nur ging, durchstöbert hatte, hatte ich festgestellt, dass es für das Zirkuspersonal erschreckend wenige Wohnwägen gab: Sie mussten dort wie die Ölsardinen oder Heringe dahinvegetieren. Der Dompteur schlief mit noch drei weiteren Artisten im Wohnwagen, und hätte er dort mit der Elektrischen Belinda vögeln wollen, hätte er die Artisten nirgendwohin ausquartieren können, denn sogar im Wohnwagen desPrinzipals war es zum Bersten voll, von seiner ganzen Familie mit Kind und Kegel. In Jundrov gab es zwar neben dem Fluss das Gasthaus An der Piave, aber ohne Zimmervermietung.
Und so begab ich mich im Anschluss an die Vorstellung – als das Zirkuspublikum nach und nach in überfüllten Trams, die in die Nacht leuchteten wie rollende Aquarien, weggefahren war, und nachdem auch die erschöpften Zirkusleute ins Bett gekrochen waren – erneut zu den Wohnwägen und Käfigen, ziemlich überrascht davon, dass es hier in der Nacht keine Wachen gab. Mir wurde jedoch gleich bewusst, wie überflüssig diese gewesen wären. Die Tiger waren zwar in Käfigen, aber trotzdem würde sich kein Fremder in der Nacht hierher wagen, weil ihre bloße Gegenwart eine schützende Hand über das Nachtlager des Zirkus hielt. Mir war ja auch nicht wohl dabei. Doch die Raubtiere in den Käfigen reagierten seltsamerweise überhaupt nicht auf mich. Ich hielt natürlich respektvollen Abstand zu den Tigern, aber wieder keinen so großen, als dass sie nicht von mir gewusst hätten. Und ich befand mich hier zu einer Stunde, da kein Fremder sich hier bewegte. Aber vielleicht waren sie von der massenhaften ganztägigen menschlichen Zudringlichkeit schon so abgestumpft und genervt, dass sie meine Anwesenheit verächtlich ignorierten.
Und so tat ich noch ein paar freche Schritte in Richtung der Käfige, doch die schwarzen Schatten hinter den Gittern rührten sich kein bisschen. Das gab mir den Mut für weitere Schritte, bis ich so nah war, dass ich im Mondlicht sah, dass dort nur drei Tiger waren. Zwei zusammenin einem Käfig, der dritte wälzte sich im Nebenkäfig herum: Jetzt riss er die großen gelben Augen auf, glotzte mich an, gähnte gelangweilt und drehte sich auf die andere Seite. Vom Auftritt in der Manege aber konnte ich mich gut daran erinnern, dass es vier gewesen waren. In einer der Glanznummern hatten drei Tiger auf einem heruntergelassenen Trapez einen pelzigen Ring gebildet, durch den der vierte hin und her sprang. Noch immer hatte ich den begeisterten Applaus im Ohr. Aber wo war der vierte Tiger jetzt?
Also gut, was bleibt mir anderes übrig, also ja. Ich legte meine Leica irgendwohin in die Dunkelheit und breitete dann, ohne mit dem Zweig den Kreis um mich herum zu kehren, bloß das Taschentuch an den Stellen
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