Das Versteck
nach: »Heute abend um zehn hole ich euch wieder ab. Genau hier, und seid ja pünktlich!«
Als sie ihre Eintrittskarten gekauft hatten und den Vergnügungspark betraten, fragte Tod: »Wo wollen wir anfangen?«
»Weiß nicht. Was schlägst du vor?«
»Mit dem ›Skorpion‹ fahren?«
»Au ja!«
»Prima!«
Und sie rasten davon zum nördlichen Teil des Parks, wo sich das stählerne Gerüst des ›Skorpions‹, laut Fernsehwerbung »Die Achterbahn mit Biß«, in verheißungsvollem Schrecken in den wolkenlosen Himmel reckte. Im Vergnügungspark war es noch relativ leer, und so brauchten sie sich nicht zwischen sich endlos vorwärtsschiebenden Menschenschlangen durchzuquetschen. Ihre Tennisschuhe trommelten auf dem Fußweg, und jedes Aufklatschen der Gummisohle auf dem Asphaltbelag glich einem Schrei nach Freiheit. Sie fuhren mit dem ›Skorpion‹, kreischten und brüllten, wenn er sich aufbäumte, wand und drehte, vornüber plumpste und sich erneut aufbäumte. Als die Fahrt zu Ende war, rasten sie sofort wieder zur Einstiegsrampe, um gleich die nächste Runde zu drehen.
Damals wie heute liebte Jeremy extreme Geschwindigkeit. Die engen Kurven, die wilden Berg- und Talfahrten in der Achterbahn, die einem den Magen hoben, boten einen kindlichen Ersatz für die Gewalttätigkeit, die er unbewußt herbeisehnte. Nach zwei Fahrten mit dem ›Skorpion‹ und lauter rasanten Stürzen, Schrauben, Loopings und anderen Wonnen, die noch vor ihm lagen, war Jeremy wie berauscht.
Nur Tod verdarb ihm die Stimmung, als sie nach der zweiten Runde den ›Skorpion‹ verließen und er ihm den Arm um die Schultern legte. »Mann, das ist wohl der stärkste Geburtstag, den man sich denken kann. Nur du und ich.«
Diese kameradschaftliche Vertraulichkeit, wie überhaupt jede Kameradschaft, war einfach verlogen. Scheinheilig. Lug und Trug. Jeremy haßte dieses falsche Getue, doch Tod war davon geradezu erfüllt. Kameraden, dicke Freunde, Blutsbrüder. Du und ich, wir beide gegen den Rest der Welt.
Jeremy war sich nicht ganz sicher, was ihn mehr ärgerte: daß Tod ihm dauernd diesen Bären über ihre dicke Freundschaft aufband und auch noch glaubte, daß Jeremy diesen Vertrauensbeweis schluckte – oder daß Tod manchmal blöd genug war, selber darauf hereinzufallen. Seit kurzem erst keimte in Jeremy der Verdacht, daß einige Leute das Spiel des Lebens absolut perfekt beherrschten und gar nicht mehr merkten, daß es nur ein Spiel war. Sie täuschten sogar sich selbst mit all ihrem Gerede über Freundschaft, Liebe und Mitgefühl. Und Tod wurde ihnen allmählich immer ähnlicher, diesen hoffnungslosen Idioten.
Dicke Freunde sein bedeutete lediglich, daß du einen dazu bringst, Dinge für dich zu tun, die er für einen anderen nie im Leben tun würde. Freundschaft war nichts anderes als ein Verteidigungspakt auf Gegenseitigkeit, ein Mittel, um mit vereinten Kräften gegen das Pack deiner Mitmenschen anzugehen, die dir ohne zu zögern die Fresse einschlagen und sich nehmen würden, was immer sie wollten. Jedem war doch klar, was es mit Freundschaft auf sich hatte, nur sprach niemand offen darüber, am wenigsten Tod.
Als sie später aus dem Spukhaus kamen und zur nächsten Attraktion, der ›Sumpfbestie‹ strebten, machten sie erst einmal bei einem Eisverkäufer halt, der köstliches Eis mit Schokoladendressing und gehackten Nüssen oben drauf verkaufte. Sie saßen auf Plastikstühlen unter einem roten Sonnenschirm an einem Plastiktisch und schleckten ihr Eis, hinter ihnen eine filmreife Kulisse aus Akazien und einem tosenden künstlichen Wasserfall.
Zunächst war alles auch ganz in Ordnung, bis Tod wieder die Stimmung verderben mußte.
»Ist doch toll, mal ganz ohne die Alten in so einem Park zu sein, meinst du nicht?« sagte er mit dem Mund voller Eiscreme. »Endlich kannst du mal Eis vor dem Lunch essen, wie jetzt. Mensch, du kannst es auch zum Lunch essen, wenn du willst, und danach noch mal, und niemand regt sich auf, weil du dir den Appetit verdirbst oder weil dir schlecht wird.«
»Schon toll«, pflichtete Jeremy bei.
»Wir bleiben einfach hier hocken und essen Eis, bis es uns wieder hochkommt.«
»Klingt gut, Wir sollten es aber nicht verschwenden.«
»Was?«
Jeremy erklärte. »Wenn wir kotzen müssen, dann nicht auf den Boden. Wir sollten jemanden vollkotzen.«
»Prima«, meinte Tod, der endlich begriff. »Jemanden, der es verdient und wo es sich lohnt.«
»Wie die da.« Jeremy zeigte auf zwei aufgetakelte Teenager, die
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