Das Versteck
stammt.«
»Da liegen Sie richtig. Ein oder zwei Stücke fehlen noch, dann ist die Sammlung komplett.«
»Es hängt nur etwas seltsam«, sagte Hatch und trat vor das Bild neben der Sehtafel.
»Ich weiß, was Sie damit sagen wollen«, erwiderte Nyebern. »Nur habe ich zu Hause leider keinen Platz mehr für alle meine Bilder. Ich bin nämlich dabei, dort moderne religiöse Kunst zu sammeln.«
»Gibt es die denn?«
»Wenig. Religiöse Themen sind heutzutage bei den wirklich begabten Künstlern nicht besonders beliebt. Die meisten Bilder kommen von mittelmäßigen Malern. Doch manchmal … manchmal gibt es noch echte Talente, die sich von biblischen Themen inspirieren lassen und sie dann mit aktuellem Bezug umsetzen. Ich werde die moderne Sammlung hierher verlegen, wenn diese hier vollständig ist und ich mich von ihr trennen werde.«
Hatch hatte sich umgedreht und musterte Nyebern mit berufsmäßigem Interesse. »Wollen Sie denn verkaufen?«
»O nein«, erwiderte der Arzt und steckte den Füller in die Brusttasche zurück. Er hatte lange, schmale Hände, wie man es bei einem Chirurgen erwartete. Die Hand blieb auf der Brust liegen, als gelobte er, die Wahrheit zu sprechen. »Ich werde sie einem guten Zweck stiften. Das wäre dann in zwanzig Jahren meine sechste Sammlung religiöser Kunst, die ich verschenke.«
Da Hatch den Wert der Gemälde von den anderen Räumen her leicht überschlagen konnte, war er beeindruckt von der philanthropischen Haltung, die Nyebern mit diesen einfachen Worten ausdrückte. »Und wer ist der glückliche Beschenkte?«
»Nun, gewöhnlich eine katholische Universität, bei zwei anderen Gelegenheiten war es eine andere kirchliche Institution.«
Der Arzt betrachtete das Gemälde, doch sein Blick war starr, als ob er durch das Bild hindurch, über die Wand, an der es hing, und noch weit über den Horizont hinausging. Nyeberns Hand lag immer noch auf seiner Brust.
»Das ist wirklich großzügig von Ihnen«, sagte Hatch voll Anerkennung.
»Es ist kein Akt von Großmut.« Nyeberns Stimme schien ebenso weit weg zu sein wie sein Blick. »Es ist ein Akt der Buße.«
Diese Worte verlangten nach einer Erklärung, obwohl Hatch es als ein Eindringen in die Privatsphäre des Arztes empfand. »Buße, wofür?«
Den Blick immer noch auf das Gemälde geheftet, antwortete Nyebern: »Ich spreche niemals darüber.«
»Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich dachte nur …«
»Vielleicht würde es mir guttun, darüber zu reden. Meinen Sie nicht auch?«
Hatch erwiderte nichts darauf – er hatte den Eindruck, daß der Arzt ihm sowieso nicht zuhörte.
»Buße«, setzte Nyebern noch einmal an. »Zunächst einmal Buße dafür, daß ich der Sohn meines Vaters bin. Und dann … dafür, daß ich der Vater meines Sohnes bin.«
Hatch begriff nicht ganz, warum beides eine Sünde sein sollte, und wartete geduldig. Der Arzt würde bestimmt gleich erläutern, wie er das meinte. Allmählich kam er sich vor wie der Mann in dem alten Coleridge-Gedicht, der auf dem Weg zu einer Gesellschaft von dem verrückten alten Seemann aufgehalten wurde, der unbedingt seine Horrorgeschichte loswerden mußte, weil er sonst das letzte bißchen Verstand, das ihm noch geblieben war, verlieren würde.
Mit unverwandt starrem Blick auf das Bild fing Nyebern an zu reden. »Als ich gerade sieben Jahre alt war, lief mein Vater plötzlich Amok und erschoß meine Mutter und meinen Bruder. Meine Schwester und ich waren bloß angeschossen, er hielt uns ebenfalls für tot und brachte sich um.«
»O mein Gott, wie schrecklich«, stieß Hatch hervor und dachte an die cholerischen Anfälle seines Vaters. »Das tut mir wirklich sehr leid, Doktor Nyebern.« Er begriff aber immer noch nicht, worin das Vergehen oder die Sünde bestand, für die Nyebern unbedingt büßen wollte.
»Bestimmte Psychosen haben manchmal eine genetische Ursache. Als ich die ersten Anzeichen von soziopathologischem Verhalten bei meinem Sohn bemerkte, selbst als er noch sehr klein war, hätte ich wissen müssen, worauf es hinauslaufen würde, und etwas unternehmen müssen, aber ich konnte die Wahrheit nicht ertragen. Es war zu schmerzhaft, einfach schrecklich. Und dann, vor zwei Jahren, als er achtzehn war, erstach er seine Schwester …«
Hatch lief es kalt den Rücken hinunter.
»… und danach seine Mutter.«
Hatch wollte dem Arzt spontan die Hand auf den Arm legen, doch spürte er instinktiv, daß Nyeberns Schmerz niemals gelindert werden konnte und kein Mittel,
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