Das Versteck
»Das ist aber ein tolles Angebot. Der liebe Gott muß schwer beeindruckt sein.«
»Das will ich hoffen«, meinte Regina.
In Vassagos Traum ging Regina im Sonnenschein spazieren. Das eine Bein steckte in einer Schiene, und ein Schmetterling umgaukelte sie wie eine Blume. Ein von Palmen umstandenes Haus. Eine Tür. Sie schaute zu Vassago auf, und ihr Blick verriet so viel Lebensfreude und ein so empfindsames Gemüt, daß sein Puls im Schlaf noch raste.
Sie gingen zu Lindsey in den ersten Stock hinauf. Dort hatte sie sich in einem Gästezimmer ein zweites Atelier eingerichtet. Die Staffelei war so zur Tür gedreht, daß Hatch das Bild nicht sehen konnte. Lindseys Bluse hing halb aus der Jeans heraus, ihre Haare waren verstrubbelt, und auf ihrer linken Wange prangte ein roter Farbklecks. Hatch kannte diesen Glanz in ihren Augen, er signalisierte, daß Lindsey sich im letzten Stadium ihrer Malwut befand und das Bild offenbar so gut wurde, wie sie es sich erhofft hatte.
»Hallo, Liebes«, begrüßte sie Regina. »Wie war's in der Schule?« Regina war es nicht gewöhnt, mit einem Kosenamen angesprochen zu werden, und die Worte machten sie wieder einmal verlegen. »Na ja, so halt.«
»Aber du gehst doch gern zur Schule! Ich weiß, daß du gute Noten hast.«
Regina reagierte nur mit einem Schulterzucken und schaute etwas betreten drein.
Hatch kämpfte mit dem Wunsch, das Mädchen in die Arme zu schließen. »Regina will später einmal Schriftstellerin werden«, sagte er zu Lindsey.
Sie blickte Regina überrascht an. »Das ist aber toll. Ich weiß, daß du gerne liest, aber ich hatte keine Ahnung, daß du selber schreiben willst.«
»Ich auch nicht«, meinte das Mädchen und kam plötzlich in Fahrt. Ihre anfängliche Scheu Lindsey gegenüber war vergessen, die Worte strömten nur so aus ihr heraus, während sie um die Staffelei herumging und das fast fertige Bild betrachtete. »Bis letztes Jahr an Weihnachten im Heim. Für mich lagen sechs Taschenbücher unter dem Weihnachtsbaum. Nicht etwa dieser Kinderkram für Zehnjährige, richtige Bücher, weil ich schon auf dem Stand der zehnten Klasse bin, also wie die Fünfzehnjährigen. Ich bin nämlich frühreif, wie man so sagt. Egal, die Bücher waren bisher mein tollstes Geschenk, und ich dachte mit einemmal, wie schön es wäre, wenn eines Tages ein Mädchen in dem Heim meine Bücher geschenkt bekäme und sich genauso darüber freuen würde. Nicht, daß ich je so gut sein werde wie Mr. Daniel Pinkwater oder Mr. Christopher Pike. Du meine Güte, die stehen ja mit Shakespeare und Judy Blume in einer Reihe. Aber ich kann auch gute Geschichten erzählen, und die sind nicht immer so ein Scheiß wie das intelligente Schwein aus dem Weltall, äh, ich meine natürlich Mist. Nein, Käse wollte ich sagen. Intelligentes-Schwein-aus-dem-Weltall-Käse.«
Lindsey ließ Hatch – oder wen auch immer – ihre Bilder niemals sehen, bevor sie fertiggemalt waren. Und mit diesem hier war sie noch beschäftigt, um so mehr überraschte es Hatch, daß sie nicht einmal mit der Wimper zuckte, als Regina sich das Bild auf der Staffelei anschaute. Kein Kind, auch nicht mit einer noch so frechen Nase und Sommersprossen, sollte ein Privileg genießen dürfen, das ihm selbst verwehrt wurde. Entschlossen trat Hatch auch an die Staffelei und wagte einen Blick auf das unfertige Bild.
Es war phantastisch. Den Hintergrund bildete ein Sternenhimmel, und darüber schwebte das transparente Gesicht eines ätherischen, bildschönen Jungen. Nicht irgendeines Jungen. Es war ihr Jimmy. Lindsey hatte ihn früher ein paarmal gemalt, als er noch lebte, doch seit seinem Tod noch nie – bis eben jetzt. Es war ein idealisierter Jimmy von solcher Perfektion, daß er wie ein Engel wirkte. Seine lieben Augen blickten gen Himmel auf ein warmes Licht, das vom obersten Bildrand auf ihn niederfiel, und sein Ausdruck war mehr als verzückt. Verklärt. Im Vordergrund des Bildes schwebte eine schwarze Rose. Sie war nicht durchsichtig wie das Gesicht des Jungen, vielmehr so plastisch gemalt, daß Hatch die samtige Weichheit der Blütenblätter zu fühlen glaubte. Auf dem grünen Stiel lag kühler Tau, und die Dornen wirkten mit ihren naturgetreuen scharfen Spitzen gefährlich echt. Es war Lindsey gelungen, die schwebende Rose mit einer Aura des Übernatürlichen zu erfüllen, die den Blick fesselte, ja den Betrachter geradezu magisch anzog. Der Junge beachtete die Rose jedoch nicht, sein Blick blieb entzückt. Die
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