Das Versteck
Richtung auf die Vorläufer der fernen Berge im Osten mit ihren nächtlich verhüllten Gipfeln.
Zunächst war Hatch sich nicht so sicher. Dann brach sich allmählich die Überzeugung Bahn, daß sie noch immer die richtige Spur verfolgten. Der Boulevard führte in östliche Richtung an endlosen Häuserreihen vorbei, die die Hügel mit Lichtpunkten garnierten, daß es wie Tausende von Gedenkflammen auf riesigen Votiv-Kerzenhaltern wirkte, und mit jeder zurückgelegten Meile spürte Hatch immer deutlicher, daß er und Lindsey im Kielwasser der Bestie segelten.
Weil sie übereingekommen waren, keine Geheimnisse mehr voreinander zu haben, und weil er glaubte, daß Lindsey die volle Wahrheit über Reginas tödliche Lage wissen sollte – und verkraften würde –, sagte Hatch: »Was er vorhat … Er will ihr pochendes Herz in den bloßen Händen halten und fühlen, wie alles Leben aus ihr entweicht.«
»Oh, mein Gott.«
»Sie ist noch am Leben. Sie hat eine Chance. Es besteht noch Hoffnung.«
Er glaubte, was er sagte, mußte daran glauben oder verrückt werden. Aber wie ein Schatten lag die Erinnerung an Jimmy über ihm, dem er diese Dinge auch so oft gesagt hatte in den Wochen, bevor der Krebs ihn endgültig dahinraffte.
Dritter Teil
Unter den Toten
Der Tod ist kein furchtbares Geheimnis. Er ist dir und mir wohlbekannt. Er birgt keine unergründlichen Geheimnisse, die den Schlaf eines guten Menschen stören könnten.
Wende dein Antlitz nicht vom Tode ab. Nimm es gelassen hin, daß er dir den Odem nimmt.
Fürchte ihn nicht, denn er ist nicht dein Herr, auch wenn er immer schneller dir entgegeneilt. Nicht dein Herr, sondern ein Diener deines Schöpfers, der den Tod genauso erschaffen hat wie dich – und Er, dein Gott, ist das einzige Geheimnis.
The Book of Counted Sorrow
Siebentes Kapitel
1
Jonas Nyebern und Kari Dovell saßen bei gedämpftem Licht in tiefen Sesseln vor den Panoramafenstern in Spyglass Hill und blickten auf die Millionen von Lichtern, die unter ihnen funkelten. In der klaren Nachtluft reichte die Sicht bis weit in den Norden auf Long Beach Harbor. Das Flechtwerk der Zivilisation schien wie ein kalt leuchtendes Pilzgewächs zu wuchern und alles unter sich zu ersticken.
Zwischen ihren Sesseln stand ein Eiskübel auf dem Boden mit einer Flasche trockenen kalifornischen Weißweins. Es war ihre zweite Flasche. Sie hatten noch nichts gegessen. Jonas redete ununterbrochen.
Seit einem Monat trafen sie sich beinahe regelmäßig auf gesellschaftlicher Ebene. Sie waren noch nicht miteinander ins Bett gegangen, und Jonas glaubte nicht, daß sie es je tun würden. Nicht, daß Kari nicht begehrenswert gewesen wäre, mit dieser merkwürdigen Mischung aus Anmut und Unbeholfenheit, die ihn oftmals an einen exotischen, stelzbeinigen Vogel denken ließ. Die Frau in ihr würde niemals die Oberhand über die Ärztin gewinnen, die ihrem Beruf mit Ernst und Hingabe nachging. Wie auch immer, Jonas bezweifelte, daß Kari körperliche Intimitäten überhaupt erwartete, und fürchtete zudem, daß er gar nicht fähig dazu wäre. Er fand keine Ruhe mehr, es gab zu viele Gespenster um ihn, die ihm sein Glück streitig machen würden. Was sie also beide in ihrer Beziehung fanden, war Ansprache, Verständnis und aufrichtiges Mitgefühl ohne Gefühlsduselei.
Heute abend nun sprach Jonas über Jeremy, nicht gerade ein passendes Thema für den Beginn einer Romanze, so man sie plante. Er machte sich große Vorwürfe, daß er damals die ersten Anzeichen von Jeremys ererbtem Wahnsinn nicht gleich als solche zu deuten – oder anzuerkennen – gewagt hatte.
Jeremy war ein auffallend ruhiges Kind gewesen, das lieber mit sich allein blieb. Sie hatten sich das mit normaler kindlicher Schüchternheit erklärt. Sein Desinteresse an Spielsachen, schon vom Babyalter an, wurde seiner ungewöhnlich hohen Intelligenz und seinem ernsthaften Naturell zugeschrieben. Nur heute legten alle diese unberührten Modellflugzeuge, Brettspiele, Tennis- und Ping-Pongbälle und ausgetüftelten Bausätze beunruhigendes Zeugnis dafür ab, daß Jeremys Innenleben um vieles bunter und phantasiereicher war, als sämtliche Spielzeughersteller zusammen es zu bieten vermochten.
»Jedesmal, wenn man ihn umarmen wollte, machte er sich steif«, erinnerte sich Jonas. »Wenn er mal einen Kuß erwiderte, küßte er die Luft und nicht deine Wange.«
»Eine Menge Kinder haben Schwierigkeiten damit, ihre Gefühle zu zeigen«, wandte Kari ein. Sie nahm die
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