Das Versteck
Geruch, scharf wie Ammoniak, stieg ihr in die Nase. Das Zeug brannte höllisch in ihren Nasengängen und zwang sie, ihre plötzlich tränenden Augen weit aufzureißen.
Ein Mann im weißen Kittel hielt ihr etwas dicht unter die Nase und blickte ihr dabei aufmerksam in die Augen. Als der Gestank einen heftigen Würgereiz bei ihr auslöste, zog er das Zeug weg und übergab es einer Brünetten in weißer Tracht. Der durchdringende Geruch verflog rasch.
Lindsey war sich der Geschäftigkeit um sie herum durchaus bewußt. Gesichter kamen und gingen. Sie wußte, daß sie im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, daß dringliche Untersuchungen mit ihr angestellt wurden, aber sie wurde das Gefühl nicht los, daß das alles sie nichts anging. Es war wie ein Traum, und verglichen damit waren ihr sogar ihre vorangegangenen Alpträume noch realer vorgekommen. Das Stimmengewirr plätscherte dahin wie sanfte Wellen an einem Sandstrand.
»… ausgeprägte Blässe der Haut … Zyanose von Lippen, Nägeln, Fingerspitzen, Ohrläppchen …«
»… schwacher Puls, sehr schnell … Atmung schnell und flach …«
»… der Blutdruck ist so verdammt niedrig, daß ich keine Werte ablesen kann …«
»Haben die Arschlöcher sie denn nicht gegen Schock behandelt?«
»Doch, auf dem ganzen Weg hierher.«
»Sauerstoff, CCh-Gemisch. Schnell!«
»Epinephrin?«
»Ja, vorbereiten.«
»Epinephrin? Aber was, wenn sie nun innere Verletzungen hat? Eine Hämorrhagie kann man schließlich nicht sehen.«
»Verdammt, ich muß es eben riskieren.«
Jemand legte eine Hand über ihr Gesicht, so als wollte er sie ersticken. Etwas wurde in ihre Nasenlöcher geschoben, und einen Moment lang konnte sie nicht atmen. Das Seltsame daran war, daß ihr das nichts ausmachte. Dann zischte kühle trockene Luft durch ihre Nase und zwang ihre Lunge sich auszudehnen.
Eine junge weißgekleidete Blondine beugte sich über sie, fixierte das Atmungsgerät und lächelte gewinnend. »Na also, Schätzchen. Spüren Sie's?«
Die Frau war schön, ätherisch, mit einer selten melodischen Stimme, umgeben von einem goldenen Schein.
Eine himmlische Erscheinung. Ein Engel.
Schnaubend brachte Lindsey hervor: »Mein Mann ist tot.«
»Alles wird wieder gut, Schätzchen. Entspannen Sie sich, atmen Sie so tief, wie Sie können. Alles wird wieder gut.«
»Nein, er ist tot«, beharrte Lindsey. »Tot und fort, fort für immer. Lügen Sie mich nicht an. Engel dürfen nicht lügen.«
Auf der anderen Bettseite rieb ein Mann in Weiß die Innenfläche von Lindseys linkem Ellbogen mit einem alkoholgetränkten Wattebausch ab. Er war eiskalt.
An den Engel gewandt, wiederholte Lindsey: »Tot und fort für immer.«
Der Engel nickte traurig. Seine blauen Augen strahlten Güte und Liebe aus, wie es sich für die Augen eines Engels gehörte. »Er ist fort, Schätzchen. Aber diesmal ist das vielleicht doch nicht das Ende.«
Der Tod war immer das Ende. Wie könnte der Tod nicht das Ende sein?
Eine Nadel stach in Lindseys linken Arm.
»Diesmal gibt es noch eine Chance«, sagte der Engel sanft. »Wir haben hier ein Spezialprogramm, ein wirklich …«
Eine andere Frau stürzte ins Zimmer und rief aufgeregt: »Nyebern ist da!«
Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum, fast wie verhaltener Jubel.
»Er saß in Marina Del Rey beim Abendessen, als sie ihn erreichten. Er muß in einem Höllentempo hergerast sein.«
»Sehen Sie, Liebes?« sagte der Engel zu Lindsey. »Es gibt eine Chance. Es gibt noch eine Chance. Wir alle werden beten.«
Und wenn schon, dachte Lindsey bitter. Beten hat mir noch nie etwas genutzt. Es gibt keine Wunder. Die Toten bleiben tot, und die Lebenden warten nur darauf, es ihnen gleichzutun.
Drittes Kapitel
1
Nach den von Dr. Jonas Nyebern sorgfältig ausgearbeiteten und im Büro der Projektgruppe für Reanimationsmedizin aufbewahrten Bestimmungen hatte das Team vom Bereitschaftsdienst des Orange County General Hospital einen Operationssaal für die Behandlung der Leiche von Hatchford Benjamin Harrison vorbereitet. Sie hatten sich sofort an die Arbeit gemacht, nachdem die Notärzte über Polizeifunk aus den San Bernardino Mountains gemeldet hatten, daß das Opfer in eisigem Wasser ertrunken war, bei dem vorangegangenen Unfall aber nur leichte Verletzungen erlitten hatte, was den Mann zum idealen Versuchsobjekt für Nyebern machte. Als der Rettungshubschrauber auf dem Krankenhausparkplatz landete, war die Ausstattung des Operationssaales mit Instrumenten
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