Das Versteck
das Orange County General war eines von nur drei Zentren in ganz Südkalifornien, das sich eines großangelegten und finanziell geförderten Projekts zur Verbesserung der Reanimationsmöglichkeiten rühmen konnte. Harrison war der fünfundvierzigste Patient innerhalb der vierzehn Monate seit Bestehen der Projektgruppe, aber seine Todesart machte ihn zum interessantesten. Ertrinken, gefolgt von schnell einsetzender Hypothermie. Ertrinken bedeutete relativ geringe physische Schäden, und der Kältefaktor sorgte für eine drastische Verzögerung des postmortalen Zersetzungsprozesses der körpereigenen Zellen.
Bisher hatten Jonas und sein Team es meistens mit Opfern von Schlaganfällen, von Herzstillstand und Asphyxie infolge von Luftröhrenverstopfung sowie mit Drogentoten zu tun gehabt. Diese Patienten hatten normalerweise vor ihrem Tod oder im Augenblick des Todes irgendeinen irreversiblen Gehirnschaden erlitten, was ihre Chancen, im Reanimationszentrum wieder völlig hergestellt zu werden, natürlich erheblich verringerte. Und von denen, die an einem Trauma der einen oder anderen Art gestorben waren, hatten einige so schwere Verletzungen erlitten, daß sie auch nach gelungener Reanimation nicht gerettet werden konnten. Bei anderen Reanimierten hatte sich der Zustand zunächst stabilisiert, doch dann waren sie irgendwelchen Sekundärinfektionen mit anschließendem toxischen Schock erlegen. Und drei waren so lange tot gewesen, daß die erlittenen Gehirnschäden trotz erfolgreicher Reanimation eine Wiedererlangung des Bewußtseins verhinderten oder aber auch, wenn sie bei Bewußtsein waren, eine normale Lebensführung unmöglich machten.
Jonas verspürte heftige Gewissensbisse und tiefen Schmerz, wenn er an seine Fehlschläge dachte, an unvollkommen wiederhergestelltes Leben, an Patienten, in deren Augen er das qualvolle Wissen um ihren mitleiderregenden Zustand gelesen hatte …
»Diesmal wird es anders sein.« Kari Dovells Stimme war leise, nur ein Flüstern, aber sie riß Jonas aus seinen düsteren Gedanken.
Er nickte. Ihm lag sehr viel an diesen Menschen, und ihnen wünschte er noch mehr als sich selbst einen großen, uneingeschränkten Erfolg der Gruppe.
»Versuchen wir unser Bestes«, sagte er.
Noch während er sprach, flogen die Schwingtüren des Operationssaales weit auf, und zwei Pfleger eilten mit dem Toten auf einer Trage herein. Schnell und geschickt verfrachteten sie ihn auf den Operationstisch, wobei sie behutsamer und respektvoller zu Werke gingen, als sie es vielleicht mit jeder anderen Leiche getan hätten, und verschwanden dann wieder.
Die Pfleger hatten den Raum noch nicht verlassen, als sich das Team schon an die Arbeit machte. Jeder Handgriff saß, während sie rasch die restlichen Kleidungsstücke des Toten aufschnitten, bis er nackt auf dem Rücken vor ihnen lag. Dann wurden die Elektroden eines Elektrokardiographen, eines Elektroenzephalographen und eines digitalen Thermometers an seinem Körper befestigt.
Jede Sekunde war kostbar. Minuten waren nicht mit Gold aufzuwiegen. Je länger der Mann tot blieb, desto geringer war die Chance, ihn wieder zum Leben zu erwecken.
Kari Dovell regulierte den Kontrast am EKG-Monitor. Für die Tonbandaufnahme, die von der ganzen Prozedur gemacht wurde, kommentierte sie laut, was alle Anwesenden sehen konnten:
»Nullinien. Kein Herzschlag.«
»Kein Alpha, kein Beta«, fügte Ken Nakaniura hinzu, was bedeutete, daß keinerlei Hirnströme gemessen wurden.
Helga hatte die Manschette eines Blutdruckmeßgeräts um den rechten Oberarm des Mannes gewickelt und meldete erwartungsgemäß: »Kein meßbarer Blutdruck.«
Gina, die neben Jonas stand, las die Anzeige des Digitalthermometers ab: »Körpertemperatur sieben Grad Celcius.«
»So tief?« Karis grüne Augen weiteten sich vor Überraschung, während sie die Leiche betrachtete. »Und dabei muß er sich um mindestens fünf Grad erwärmt haben, seit man ihn aus dem Fluß gezogen hat. Hier drinnen wollen wir es ja kalt haben, aber so kalt nun auch wieder nicht.«
Der Thermostat war auf achtzehn Grad eingestellt, eine Kompromißlösung, damit einerseits das Reanimationsteam nicht fror und andererseits das Opfer sich nicht zu schnell erwärmte.
Kari wandte ihren Blick von dem Toten ab und sah Jonas an. »Kälte ist gut, okay, wir wollen, daß er kalt ist, aber nicht zu kalt, verdammt noch mal. Was, wenn sein Gewebe erfroren ist und seine Gehirnzellen stark geschädigt worden sind?«
Jonas untersuchte Zehen
Weitere Kostenlose Bücher