Das Versteck
Hause im Kreis all jener, die die Liebe verabscheuten, die wußten, daß Lustgewinn der einzige Sinn des Daseins war. Nur das eigene Ich zählte. Begriffe wie »böse« oder »Sünde« waren völlig irrelevant.
Je länger er die Sterne zwischen den Wolken anstarrte, desto heller schienen sie zu werden, bis jeder Lichtpunkt im ungeheuren leeren Raum ihm in die Augen stach. Tränen des Unbehagens raubten ihm die klare Sicht, und er war gezwungen, den Blick auf die Erde zu seinen Füßen zu senken. Sogar bei Nacht war das Land der Lebenden für seinesgleichen viel zu hell. Er brauchte kein Licht, um sehen zu können. Sein Sehvermögen hatte sich der totalen Finsternis des Todes, den Katakomben der Hölle angepaßt. Für Augen wie seine war Licht nicht nur etwas völlig Überflüssiges, sondern ein Ärgernis und manchmal sogar ein Greuel.
Ohne noch einmal zum Himmel hochzusehen, verließ er die Wiese und kehrte auf den rissigen Asphalt zurück. Seine Schritte hallten dumpf an dieser Stätte, die einst von Stimmengewirr und Gelächter erfüllt gewesen war. Wenn er gewollt hätte, hätte er sich aber auch so lautlos wie eine Katze auf der Jagd bewegen können.
Die Wolkendecke riß auf, und das plötzliche Mondlicht ließ ihn zusammenzucken. Er war ringsum von den bizarren Schatten der halbverfallenen Bauten seines Verstecks umgeben. Der Mondschein, der auf dem Asphalt schimmerte und jedem anderen bleich vorgekommen wäre, blendete ihn wie eine grelle Leuchtfarbe.
Er holte eine Sonnenbrille aus der Innentasche seiner Lederjacke und setzte sie auf. So war es besser.
Er zögerte kurz, wußte nicht so recht, was er während der Nachtstunden tun sollte. Zwei Möglichkeiten standen zur Wahl. Er konnte die Zeit bis zur Morgendämmerung mit den Lebenden oder mit den Toten verbringen. Diesmal fiel ihm die Entscheidung noch leichter als sonst, denn in seiner momentanen Stimmung zog er die Toten bei weitem vor.
Er trat aus einem Mondschatten heraus, der wie ein riesiges schiefes, zerbrochenes Rad aussah, und ging auf den verfallenen Bau zu, in dem er seine Toten aufbewahrte. Seine Sammlung.
3
»Vierundsechzig Minuten«, sagte Gina nach einem Blick auf ihre Rolex mit dem pinkfarbenen Lederband. »Bei dem hier könnten wir ganz schön in die Bredouille geraten.«
Jonas konnte nicht glauben, daß die Zeit so schnell verging. Sie schien regelrecht zu verfliegen, viel schneller als gewöhnlich, so als hätte sich jemand mit böser Absicht daran zu schaffen gemacht. Aber diesen Eindruck hatte er immer in solchen Situationen, wenn der Unterschied zwischen Leben und Tod in Minuten und Sekunden gemessen wurde.
Er betrachtete das mehr blaue als rote Blut, das durch den Plastikschlauch in die surrende Herz-Lungen-Maschine lief. Der menschliche Körper enthielt durchschnittlich fünf Liter Blut. Bevor das Wiederbelebungsteam mit Harrison fertig war, würden seine fünf Liter mehrmals durch die Apparatur geleitet, erwärmt und gefiltert worden sein.
Ken Nakamura stand vor einem Schaukasten und betrachtete die Röntgenbilder von Kopf und Brust und die Sonogramme, die im Rettungshubschrauber gemacht worden waren, während er mit 270 Stundenkilometern auf das Krankenhaus in Newport Beach zuraste. Kari beugte sich tief über die Augen des Patienten und versuchte mit Hilfe eines Ophtalmoskops festzustellen, ob es irgendwelche gefährlichen Anzeichen für einen Flüssigkeitsstau im Gehirn gab.
Von Helga assistiert, hatte Jonas mehrere Spritzen mit hohen Dosen verschiedener Neutralisatoren von freien Radikalen gefüllt. Die Vitamine E und C waren hierfür hervorragend geeignet und hatten den Vorteil, daß es sich um natürliche Substanzen handelte; aber er wollte dem Patienten auch chemisch auflösende Präparate verabreichen.
Freie Radikale waren schnelle, unbeständige Moleküle, die bei ihrer Wanderung durch den Körper chemische Reaktionen auslösten, wobei die meisten Zellen, mit denen sie in Berührung kamen, beschädigt wurden. Neueste Forschungsergebnisse legten die Vermutung nahe, daß sie die Hauptursache des Alterungsprozesses waren, was auch erklärte, warum natürliche »Gesundheitspolizisten« wie die Vitamine E und C das Immunsystem stärkten und auf lange Sicht zu jugendlicherem Aussehen und mehr Energie verhalfen. Freie Radikale waren ein Nebenprodukt des natürlichen Stoffwechselprozesses und deshalb im Organismus immer vorhanden. Wenn der Körper jedoch über einen längeren Zeitraum nicht über den Blutkreislauf mit
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