Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
durften keine Sekunde aus den Augen gelassen werden, um ein Ansprechen des Patienten auf die Therapie durch erste schwache Lebenszeichen nicht zu übersehen. Die von den Notärzten durchgeführte Behandlung mußte berücksichtigt werden, bevor man entscheiden konnte, ob die verabreichte Dosis Epinephrin zu groß war, um Harrison dieses herzstimulierende Hormon noch einmal zuzuführen. Währenddessen zog Jonas ein Tablett mit Medikamenten zu sich heran, die Helga vor Eintreffen der Leiche bereitgestellt hatte, und berechnete die ideale Zusammensetzung – Ingredienzen und Mengen – des chemischen Cocktails, der die freien Radikalen daran hindern sollte, das Gewebe zu schädigen.
    »Einundsechzig Minuten«, meldete Gina, vom geschätzten Zeitpunkt des Todes ausgehend. »Wow! Ganz schön lang für einen Plausch mit den Engeln! Den hier zurückzuholen wird kein Kinderspiel, meine Lieben!«
    »Neun Grad«, meldete Helga ihrerseits ein leichtes Ansteigen der Körpertemperatur, die sich allmählich der Raumtemperatur anpaßte.
    Der Tod ist nur ein ganz gewöhnlicher pathologischer Zustand, rief Jonas sich selbst ins Gedächtnis. Pathologische Zustände sind normalerweise reversibel.
    Mit ihrer verblüffend schlanken, langfingrigen Hand legte Helga ein Baumwollhandtuch über die Genitalien des Patienten, und Jonas begriff, daß es sich dabei nicht einfach um eine gewisse Schamhaftigkeit handelte, sondern um eine zartfühlende Geste, die eine wichtige neue Einstellung zu Harrison zum Ausdruck brachte. Ein Toter interessierte sich nicht für Fragen des Anstands. Ein Toter konnte auf Zartgefühl verzichten. Helgas Geste besagte, daß sie an eine Auferweckung dieses Mannes glaubte. Sie glaubte daran, daß er in die menschliche Gemeinschaft zurückkehren würde und deshalb schon jetzt mit Mitgefühl und Takt behandelt werden mußte und nicht nur als interessantes Forschungsobjekt, eine Herausforderung an die Wissenschaft.
2
    Das Gras und Unkraut war kniehoch und besonders üppig nach einem ungewöhnlich regnerischen Winter. Eine kühle Brise brachte die Wiese zum Wispern. Gelegentlich flogen Fledermäuse und Nachtvögel über seinen Kopf hinweg oder schossen neben ihm tief herab, weil sie sich vorübergehend von ihm angezogen fühlten, als spürten sie den verwandten räuberischen Instinkt. Doch sobald sie den grausigen Unterschied zwischen sich und ihm wahrnahmen, flogen sie aufgeschreckt davon.
    Er stand trotzig da und blickte zu den Sternen am Spätwinterhimmel empor, die noch zwischen den immer dichteren, gen Osten ziehenden Wolken leuchteten. Seiner festen Überzeugung nach war das Universum ein Reich des Todes, in dem Leben eine so seltene Ausnahme bildete, daß es geradezu abartig schien. Das Universum war für ihn ein mit unzähligen öden Planeten gefüllter Raum, der nicht von Gottes Schöpferkraft Zeugnis ablegte, sondern von der Sterilität Seiner Phantasie und vom Triumph der gegen Ihn verbündeten Mächte der Finsternis. Von den beiden Realitäten, die in diesem Universum nebeneinander existierten – Leben und Tod –, war das Leben die viel unbedeutendere. Es war inkonsequent. Die Existenz eines Bürgers im Land der Lebenden blieb auf Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden beschränkt. Als Bürger im Reich der Toten war man hingegen unsterblich.
    Er selbst lebte im Grenzland.
    Er haßte die Welt der Lebenden, in die er hineingeboren worden war. Er verabscheute die Maskerade der Lebenden, die so taten, als läge ihnen etwas an Moral und Tugend, an Umgangsformen und an einer Sinngebung. Die Heuchelei in den zwischenmenschlichen Beziehungen, wo Selbstlosigkeit öffentlich proklamiert und Selbstsucht insgeheim praktiziert wurde, amüsierte ihn, widerte ihn aber gleichzeitig an. Jede gute Tat wurde seiner Ansicht nach nur im Hinblick darauf vollbracht, daß sie sich eines Tages hoffentlich auszahlen würde.
    Seine größte Verachtung – und manchmal auch Wut – galt jenen, die von Liebe sprachen und behaupteten, ein derartiges Gefühl zu empfinden. Er wußte, daß Liebe mit allen anderen hochgestochenen Tugenden, über die sich Eltern, Lehrer und Priester so gern wortreich ausließen, etwas gemeinsam hatte: sie existierte nicht. Sie war ein Schwindel, ein Betrug, ein Machtmittel und sonst nichts.
    Er schätzte statt dessen die Finsternis und das seltsame Anti-Leben der Totenwelt, in die er eigentlich gehörte, aber noch nicht zurückkehren konnte. Sein rechtmäßiger Platz war bei den Verdammten. Er fühlte sich zu

Weitere Kostenlose Bücher