Das Versteck
eindringlicher als zuvor, sagte er: »Lindsey, nein!«
Er hatte diesen Ausbruch genauso wenig erwartet wie die vorangegangenen, aber er war nicht beunruhigt. Er hatte sich rasch an diese mysteriösen Vorfälle gewöhnt und bemühte sich nun, sie zu verstehen. Nichts konnte ihn auf Dauer überraschen. Schließlich war er in der Hölle gewesen und daraus zurückgekehrt. Und das galt für die wirkliche Hölle und auch die in der Geisterbahn. Der Einbruch des Phantastischen ins reale Leben konnte ihn also weder schrecken noch mit Ehrfurcht erfüllen.
Er bestellte einen dritten Drink. Als über eine Stunde ohne weitere Vorkommnisse verging und der Barkeeper die letzte Runde für diese Nacht ankündigte, brach er auf.
Der Drang war noch immer vorhanden, der Drang zu morden und ein Kunstwerk zu schaffen. Dieses Bedürfnis, das in seinen Eingeweiden brannte, hatte nichts mit dem Rum zu tun, es erzeugte einen stählernen Druck in seiner Brust, als wäre sein Herz ein Uhrwerk mit bis zum Zerreißen gespannter Feder. Er wünschte, er wäre der rehäugigen Frau gefolgt, die er Bambi getauft hatte.
Hätte er ihre Ohren abgeschnitten, wenn sie endlich tot gewesen wäre – oder noch, solange sie am Leben war?
Hätte sie die künstlerische Aussage begreifen können, wenn er ihre Lippen über dem vollen Mund zugenäht hätte? Wohl kaum. Keine der anderen Frauen hatte die Intelligenz und Einsicht besessen, sein einzigartiges Talent zu würdigen.
Auf dem nahezu leeren Parkplatz stand er eine Zeitlang im Regen und ließ sich durchnässen, um die Flammen seiner Besessenheit ein wenig einzudämmen. Es war fast zwei Uhr nachts. Bis zur Morgendämmerung blieb nicht mehr genügend Zeit, um erneut auf die Jagd zu gehen. Er würde ohne Neuerwerb in sein Versteck zurückkehren müssen. Wenn er tagsüber etwas Schlaf finden wollte, um dann bei Einbruch der Dunkelheit für einen neuen Beutezug fit zu sein, mußte er seinen schier unbezwinglichen kreativen Drang dämpfen.
Schließlich fröstelte er. Seine innere Hitze wich gnadenloser Kälte. Er hob eine Hand, berührte seine Wange. Sein Gesicht war kalt, aber seine Finger waren noch kälter, wie die Marmorhand einer David-Statue, die er auf dem Friedhof von Forest Lawn bewundert hatte, als er noch einer der Lebenden gewesen war.
So war es besser.
Während er die Wagentür öffnete, blickte er noch einmal in die regengepeitschte Nacht hinaus. Diesmal sagte er aus eigenem Willen vor sich hin: »Lindsey?«
Keine Antwort.
Wer auch immer sie sein mochte – es war ihr noch nicht bestimmt, seinen Weg zu kreuzen.
Er würde geduldig sein müssen. Er stand vor einem Geheimnis, das ihn faszinierte und neugierig machte. Aber zu den Tugenden der Toten gehörte die Geduld, und obwohl er noch halb am Leben war, wußte er, daß er die innere Kraft aufbringen würde, sich in der Geduld der Verstorbenen zu üben.
18
Am frühen Dienstagmorgen, eine Stunde vor Tagesanbruch, konnte Lindsey nicht mehr schlafen. Ihre Muskeln und Gelenke schmerzten, und die wenigen Stunden Schlaf hatten ihre Erschöpfung kaum gelindert. Sie wollte keine Beruhigungsmittel. Ungeduldig bestand sie darauf, in Hatchs Zimmer gebracht zu werden. Die Nachtschwester holte Jonas Nyebems Erlaubnis ein, der noch immer im Hause war, und fuhr Lindsey im Rollstuhl nach Zimmer 518.
Nyebern war dort, mit geröteten Augen und zerzausten Haaren. Die Laken auf dem Bett an der Tür waren nicht zurückgeschlagen, aber zerknittert. Offenbar hatte sich der Arzt wenigstens etwas hingelegt, wenn er in dieser Nacht schon keinen richtigen Schlaf fand.
Lindsey hatte inzwischen genug über Nyebern erfahren – einiges von ihm selbst, das meiste aber von den Krankenschwestern –, um zu wissen, daß er eine Legende war. Er war ein vielbeschäftigter Herzchirurg gewesen, doch vor zwei Jahren hatte er bei irgendeinem schrecklichen Unfall seine Frau und zwei Kinder verloren, und seitdem widmete er der Chirurgie immer weniger Zeit und wandte sich um so intensiver der Wiederbelebungsmedizin zu. Seine Hingabe an diese Arbeit ging über bloße Berufung weit hinaus, war schon eher eine Obsession. In einer Gesellschaft, die gerade versuchte, drei Jahrzehnte der Genußsucht und der Ich-zu-erst-Philosophie zu überwinden, lag es nahe, einen so selbstlos agierenden Mann wie Nyebern zu bewundern, und offenbar taten das auch alle.
Lindseys Bewunderung für ihn jedenfalls war grenzenlos. Schließlich hatte er Hatchs Leben gerettet.
Nur seine blutunterlaufenen
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