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Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Augen und zerknitterten Kleider ließen seine Müdigkeit erkennen. Er zog rasch den Vorhang zurück, der das Bett am Fenster umgab, und schob Lindsey im Rollstuhl neben ihren Mann.
    Der Sturm hatte sich während der Nacht gelegt. Morgensonne drang durch die Lamellen der Jalousien und zauberte Streifen aus Schatten und goldenem Licht auf Decken und Laken, die wie künstliche Tigerfelle aussahen.
    Von Hatch war nur das Gesicht und ein Arm zu sehen, Obwohl seine Haut genauso raubtierartig gemustert war wie die Bettwäsche, ließ sich seine Blässe nicht übersehen. Vom Rollstuhl aus sah sie ihn durch das Bettgitter in schrägem Winkel. Beim Anblick eines häßlichen blauen Flecks in der Umgebung der genähten Stirnwunde drehte sich Lindsey fast der Magen um. Hätte sich Hatchs Brust nicht kaum merklich gehoben und gesenkt, und hätte das EKG nicht den Herzschlag aufgezeichnet, sie hätte ihn für tot gehalten.
    Aber er lebte, er lebte, und ihr schnürte sich die Kehle zu – ein so sicherer Vorbote von Tränen, wie Blitze Vorboten von Donner sind. Der Gedanke an Tränen überraschte sie und beschleunigte ihren Atem.
    Von dem Moment an, als der Honda in die Schlucht hinabgestürzt war, in all den qualvollen Minuten und Stunden der nun hinter ihr liegenden Nacht, hatte Lindsey nicht ein einziges Mal geweint, trotz physischer und psychischer Qualen. Sie war nicht stolz auf ihren Stoizismus. Sie war nun einmal so.
    Nein, streich das …
    Es stimmte nicht, daß sie immer so gewesen war. Während Jimmys Kampf mit dem Krebs hatte sie stoisch werden müssen. Zwischen dem Tag der niederschmetternden Diagnose und seinem Tod lagen neun lange Monate – eine genauso lange Zeit wie zwischen seiner Empfängnis und Geburt, als sie ihn liebevoll in ihrem Leib getragen hatte. Während dieses langen qualvollen Sterbens ihres Kindes hatte Lindsey tagtäglich nur den einen Wunsch gehabt, sich im Bett zu verkriechen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu weinen, den Tränen freien Lauf zu lassen, bis alle Flüssigkeit ihrem Körper entzogen wäre, bis sie verdorrte und zu Staub zerfiel und zu existieren aufhörte. Anfangs hatte sie geweint. Aber ihre Tränen verstörten Jimmy, und sie erkannte, daß es ein unverzeihlicher Egoismus war, sich gehenzulassen und den Aufruhr in ihrem Innern zu zeigen. Sogar wenn sie heimlich weinte, merkte Jimmy es immer; er war von jeher über sein Alter hinaus sensibel und aufgeweckt gewesen, und seine Krankheit schien ihn noch empfindsamer gemacht zu haben. In der neuesten Immunologieforschung wurde mit Nachdruck auf die Bedeutung einer positiven Einstellung – Lachen und Zuversicht – als Waffe im Kampf gegen lebensbedrohliche Krankheiten hingewiesen. Deshalb hatte sie gelernt, ihre Gefühle zu beherrschen und ihr Entsetzen über die Aussicht, ihn zu verlieren, zu verbergen. Sie hatte ihm Liebe, Lachen, Zuversicht und Mut geschenkt – und in ihm nie auch nur den leisesten Zweifel an ihrer festen Überzeugung aufkommen lassen, daß er diese bösartige Krankheit besiegen würde.
    Als Jimmy dann starb, hatte Lindsey schon so lange erfolgreich ihre Tränen unterdrückt, daß sie nun nicht mehr weinen konnte. Und da die erlösenden Tränen ihr versagt blieben, stürzte sie in immer tiefere Verzweiflung. Sie verlor an Gewicht – zehn Pfund, fünfzehn, zwanzig –, bis sie völlig ausgezehrt war. Sie konnte sich nicht dazu bewegen, ihre Haare zu waschen, sich zu pflegen und ihre Kleider zu bügeln. Überzeugt davon, Jimmy im Stich gelassen, sein grenzenloses Vertrauen enttäuscht zu haben, weil es ihr nicht gelungen war, ihn zu retten, glaubte sie, kein Recht mehr auf irgendeine Freude zu haben – am Essen, an ihrem Aussehen, an einem Buch oder Film, an Musik oder sonst etwas. Mit viel Geduld und liebevoller Zuneigung hatte Hatch aber schließlich die Erkenntnis in ihr geweckt, daß der Nachdruck, mit dem sie sich für einen blinden Schicksalsschlag verantwortlich machte, in gewisser Weise ebenso eine Krankheit war wie Jimmys Krebs.
    Obwohl sie nun noch immer nicht weinen konnte, war sie doch aus dem psychologischen Loch geklettert, das sie sich selbst gegraben hatte. Aber sie hatte seitdem am Rande dieses Abgrunds gelebt, stets in labilem Gleichgewicht.
    Und nun kamen diese ersten Tränen seit langer, langer Zeit völlig überraschend und bestürzten sie. Ihre Augen wurden heiß, brannten. Ihr Blick trübte sich, Ungläubig hob sie eine zittrige Hand und berührte die warmen Spuren auf ihren

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