Das Versteck
Geisterbahnhölle entdecken, daran Geschmack finden und sich dann von dort aus weiter ausbreiten. Dann hätte er angenehme Gesellschaft während des Tages, wenn die Außenwelt für ihn zu hell und ungemütlich war.
Am Ende der vierten und letzten Treppe, zwei Stockwerke unter der Garage, überschritt Vassago eine Schwelle. Wie überall im ganzen Komplex fehlte die Tür. Sie waren von Schrotthändlern weggeschleppt und billig weiterverkauft worden. Er befand sich in einem fünfeinhalb Meter breiten Betontunnel.
Der ebene Fußboden war in der Mitte mit einem gelben Streifen markiert, so als wäre es ein Highway – und in gewisser Weise war das tatsächlich der Fall gewesen.
Hier hatten sich die Lagerräume für die riesigen Vorräte befunden. Pappbecher und Hamburgerkartons, Popcornschachteln und Tüten für Pommes frites, Papierservietten und kleine Ketchup- und Senfpäckchen für die vielen Imbißstände im Vergnügungspark.
Geschäftsformulare für die Büros. Säcke mit Dünger und Kanister mit Insektenvertilgungsmitteln für die Gärtner. Das alles – und tausend andere Dinge, die in dieser kleinen Welt benötigt wurden – war vor langer Zeit ausgeräumt worden. Die Räume waren leer.
Ein Netzwerk von Tunnels hatte die Lagerräume mit Aufzügen verbunden, die zu den Hauptattraktionen und Restaurants führten. Waren konnten angeliefert und Reparaturen durchgeführt werden, ohne daß die Besucher gestört und aus der Traumwelt gerissen wurden, für die sie bezahlt hatten. Im Abstand von dreißig Metern waren Nummern an die Wände gemalt, um die Wege zu markieren, und an Kreuzungen gab es sogar Schilder mit Hinweisen wie:
‹-- Geisterbahn
‹-- Restaurant Alpenchalet
Riesenrad --›
Achterbahn --›
Vassago wandte sich an der nächsten Kreuzung nach rechts, dann bog er links ab, dann wieder rechts. Sein außergewöhnliches Sehvermögen leistete ihm in diesen dunklen Passagen wertvolle Dienste, aber er hätte sich auch ohne diese Hilfe gut orientieren können, denn inzwischen waren ihm die verödeten Lebensadern des Vergnügungsparks ebenso vertraut wie die Konturen seines eigenen Körpers.
Schließlich kam er zu einem Schild neben einem Aufzug: MASCHINENRAUM GEISTERBAHN. Die Lifttüren waren ebenso verschwunden wie die Kabine und der Mechanismus – zur Wiederverwertung oder als Schrott verkauft. Aber der Schacht war noch vorhanden: Er begann etwa einen Meter zwanzig unterhalb des Fußbodens und führte durch fünf Stockwerke Dunkelheit, zuerst zum Basement mit den Sicherheitsanlagen und Büros, dann weiter zur untersten Ebene der Geisterbahn, wo sich jetzt Vassagos Museum befand, bis zu den oberen Ebenen des Fahrgeschäfts.
Vassago ließ sich auf den Boden des Schachts hinab. Er setzte sich auf die alte Matratze, die er einmal mitgebracht hatte, um sein Versteck gemütlicher zu gestalten.
Wenn er den Kopf in den Nacken legte, konnte er in dem lichtlosen Schacht die rostigen Stahlsprossen einer Wartungsleiter sehen, die in die oberen Regionen emporführte.
Wenn er diese Leiter bis zur untersten Ebene der Geisterbahn emporkletterte, gelangte er in einen Dienstraum hinter den Wänden der Hölle, von dem aus der Gleiskettenmechanismus für die Gondeln zugänglich gewesen war. Aus dieser Kammer führte eine Tür, auf der anderen Seite als Felsen getarnt, in den nunmehr trockenen See des Hades, aus dem einst Luzifer aufgetaucht war.
Dies hier war der tiefste Punkt seines Verstecks, zwei Etagen plus ein Meter zwanzig unterhalb der Hölle. Hier fühlte er sich zu Hause, soweit ihm das überhaupt irgendwo möglich war. Draußen in der Welt der Lebenden bewegte er sich mit der Dreistigkeit eines heimlichen Herrn des Universums, aber er fühlte sich dort nirgends heimisch. Obwohl er sich im Grunde vor nichts mehr fürchtete, verspürte er doch ein ständiges leichtes Unbehagen, wann immer er sich außerhalb der kahlen schwarzen Korridore und der Grabkammern seines Verstecks befand.
Nach einer Weile öffnete er den Deckel einer stabilen Kühlbox aus Plastik, in der er Dosen mit besonders süßer Limonade aufbewahrte. Das war von jeher sein Lieblingsgetränk gewesen. Immer für Eis in der Kühlbox zu sorgen, war ihm viel zu mühsam, deshalb trank er das Zeug warm. Ihn störte das nicht.
Er bewahrte auch Süßigkeiten und Knabberzeug in der Kühlbox auf. Schokoriegel und Erdnußplätzchen, Kartoffelchips, Käsecracker, Kekse und Pralinen. Seit er im Grenzland lebte, war etwas mit seinem Stoffwechsel
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