Das Versteck
Wangen.
Nyebern zog ein Kleenex aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und gab es ihr.
Diese mitfühlende Geste rührte sie über alle Maßen, und ein leises Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
»Lindsey …«
Er hatte eine rauhe Kehle, und seine Stimme war heiser, kaum mehr als ein Flüstern. Aber sie wußte sofort, wer zu ihr gesprochen hatte, daß es nicht Nyebern gewesen war.
Sie wischte sich hastig mit dem Kleenex die Tränen aus den Augen und beugte sich im Rollstuhl vor, bis ihre Stirn das kalte Bettgitter berührte. Hatchs Gesicht war ihr zugewandt. Seine Augen waren geöffnet, und sie sahen klar und wach aus.
»Lindsey …«
Irgendwie brachte er die Kraft auf, seine rechte Hand unter der Decke hervorzuschieben und ihr entgegenzustrecken.
Sie schob ihren Arm durch die Gitterstäbe und nahm seine Hand in ihre.
Seine Haut war trocken. Die abgeschürfte Handfläche war mit einem Pflaster geschützt. Er war so schwach, daß er ihre Hand nur kaum merklich drücken konnte, aber er war warm, herrlich warm und lebendig.
»Du weinst ja«, murmelte er.
Sie weinte tatsächlich stärker als zuvor, sie vergoß heiße Tränen, aber sie lächelte durch diese Tränen hindurch. Freude hatte bewirkt, was die Trauer in fünf schrecklichen Jahren nicht vermocht hatte. Sie weinte vor Glück, und dieses Weinen tat ihr gut. Die ständige Anspannung, an die sie sich so gewöhnt hatte, daß sie sie kaum noch wahrnahm, löste sich schlagartig, so als fiele Schorf von verheilenden Wunden ab, und das alles, weil Hatch am Leben war, weil er tot gewesen war, nun aber wieder lebte.
Wenn ein Wunder das Herz nicht von einer zentnerschweren Last befreien konnte – was sollte dann überhaupt dazu imstande sein?
»Ich liebe dich«, flüsterte Hatch.
Der Tränenstrom verwandelte sich in einen regelrechten Ozean, und sie hörte sich »ich liebe dich« schluchzen, und dann spürte sie Nyeberns Hand auf ihrer Schulter, eine weitere freundliche Geste, die sie überwältigte und ihre Tränen nur noch stärker fließen ließ. Aber sie lachte durch die Tränen hindurch, und sie sah, daß auch Hatch lächelte.
»Alles ist … in Ordnung«, sagte Hatch heiser. »Das Schlimmste … ist jetzt vorbei. Das Schlimmste … liegt … hinter uns …«
19
Tagsüber, wenn er sich nach Möglichkeit vor dem Sonnenlicht verbarg, parkte Vassago den Camaro in einer unterirdischen Garage, wo das Wartungspersonal des Vergnügungsparks einst Liefer-Lastwagen abgestellt hatte. All diese Fahrzeuge waren natürlich längst verschwunden; Gläubiger hatten sie abgeholt. Der Camaro stand allein in der Mitte dieses dunklen fensterlosen Raums.
Von der Garage aus stieg Vassago eine breite Treppe – die Aufzüge funktionierten natürlich seit Jahren nicht mehr – zu einem noch tieferen Untergeschoß hinab. Dieses Basement hatte früher die Sicherheitsanlagen des Vergnügungsparks mit Dutzenden von Videobildschirmen beherbergt, die jeden Winkel des Geländes überwachten, außerdem das Kontrollzentrum der Fahrbetriebe, ein sogar noch komplizierteres High-Tech-Netzwerk von Computern und Monitoren, Schreiner- und Elektrowerkstätten, eine Cafeteria für das Personal, Garderoben und Umkleideräume für die Hunderte kostümierter Angestellter, einen Sanitätsnotdienst, Büros und vieles mehr.
Vassago hielt sich aber auf dieser Ebene nicht länger auf, sondern setzte seinen Weg in die Tiefe weiter fort. Trotz des trockenen Sandbodens von Südkalifornien verströmten die Betonwände hier einen feuchten Kalkgeruch.
Vor vielen Monaten, als er zum erstenmal in diese Gewölbe hinabgestiegen war, hatte er damit gerechnet, daß überall Ratten vor ihm flüchten würden. Aber er hatte in all den Wochen, als er die düsteren Korridore und stillen Räume der riesigen Anlage durchstreifte, keine einzige Ratte gesehen. Dabei hätte er gar nichts dagegen gehabt, diesen Ort mit Ratten zu teilen. Er mochte Ratten, diese Nager und Aasfresser, die in Verwestem schwelgten und wie eifrige Polizisten im Kielwasser des Todes für Ordnung sorgten. Vielleicht waren sie nie in die unterirdische Welt des Vergnügungsparks vorgedrungen, weil das Gebäude nach der Schließung total ausgeräumt worden war. Nur noch Beton, Plastik und Metall, viel Staub und hier und da zerknülltes Papier – fast so steril wie eine Weltraumstation und absolut uninteressant für Nagetiere, die hier keine Leckerbissen finden konnten.
Irgendwann würden die Ratten vielleicht seine Kollektion in der
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