Das Versteck
passiert: Er schien essen zu können, was immer er wollte, ohne zuzunehmen oder unter Mangelerscheinungen zu leiden. Und aus unerfindlichen Gründen war ihm immer nach dem, was er als Kind besonders gern gegessen hatte.
Er öffnete eine Limodose und trank einen großen warmen Schluck. Er holte einen Keks aus der Tüte und trennte sorgfältig die beiden Schokowaffeln, ohne sie zu beschädigen. Die weiße Füllung klebte an der Waffel in seiner linken Hand. Das bedeutete, daß er reich und berühmt sein würde, wenn er einmal groß war. Hätte der Zuckerguß an der rechten Waffel geklebt, wäre er berühmt, aber nicht unbedingt reich geworden, was alles mögliche bedeuten konnte, eine Zukunft als Rockstar oder auch als Mörder des Präsidenten der Vereinigten Staaten. Wenn die Füllung an beiden Waffeln kleben blieb, mußte man einen weiteren Keks essen, andernfalls riskierte man, überhaupt keine Zukunft zu haben.
Während er an dem Zuckerguß leckte und das süße Zeug langsam auf der Zunge zergehen ließ, starrte er in den leeren Liftschacht empor und dachte, wie interessant es doch war, daß er sich ausgerechnet den verlassenen Vergnügungspark als Schlupfwinkel ausgesucht hatte, wo die Welt doch so viele dunkle und einsame Orte bereithielt, unter denen man wählen konnte. Er war als Junge einige Male hier gewesen, als der Vergnügungspark noch in Betrieb war, zuletzt vor acht Jahren, mit zwölf, ein Jahr vor der Schließung. An diesem schönsten Abend seiner Kindheit hatte er hier seinen allerersten Mord begangen und damit seine lange Romanze mit dem Tod begonnen. Und nun war er hierher zurückgekehrt.
Er leckte den letzten Rest Füllung ab.
Er aß die erste Schokowaffel. Er aß die zweite.
Er fischte einen weiteren Keks aus der Tüte.
Er trank einen Schluck warme Limonade.
Er wünschte, er wäre tot. Ganz tot. Das war die einzige Möglichkeit, seine Existenz im Jenseits beginnen zu können.
Wenn alle Katzen Kühe wären, dachte er, hätte mein Vater ein Milchgeschäft.
Er aß den zweiten Keks, trank den Rest Limonade und streckte sich auf der Matratze aus, um einige Stunden zu schlafen.
Er träumte … Es waren seltsame Träume von Leuten, die er nie zuvor gesehen hatte, Orten, an denen er nie gewesen war, von Ereignissen, die er nie miterlebt hatte. Wasser überall, darin treibende Eisschollen, Schneegestöber und heftiger Wind. Eine Frau im Rollstuhl, lachend und zugleich weinend. Ein Krankenhausbett mit Tigerstreifen aus dunklen Schatten und goldenen Sonnenstrahlen. Die Frau im Rollstuhl, lachend und weinend. Die Frau im Rollstuhl, lachend. Die Frau im Rollstuhl. Die Frau.
Zweiter Teil
Wieder am Leben
Auf den Feldern des Lebens reift eine Ernte manchmal völlig außerhalb der dafür üblichen Jahreszeit heran, wenn wir schon glaubten, die Erde wäre alt, und keinen einleuchtenden Grund mehr sahen, warum wir im Morgengrauen aufstehen und unsere Muskeln erproben sollten. Bei Einbruch des Winters, wenn der Herbst vorüber ist, scheint es am vernünftigsten, auszuruhen. Aber unter der Erde kalter Winterfelder liegen wartend die schlafenden Samen kommender Jahreszeiten, und genauso bewahrt auch das Herz die Hoffnung, daß alle bitteren Wunden einmal heilen werden.
The Book of Counted Sorrows
Viertes Kapitel
1
Hatch hatte das Gefühl, ins vierzehnte Jahrhundert zurückversetzt worden zu sein und vor Gericht um sein Leben zu kämpfen, von der Inquisition der Irrlehre bezichtigt.
Zwei Priester hielten sich in der Anwaltskanzlei auf. Pater Jiminez war zwar nur mittelgroß, aber eine so imposante Gestalt, als wäre er dreißig Zentimeter größer, mit pechschwarzem Haar und noch dunkleren Augen, in einem schwarzen Priesteranzug mit römischem Collar. Er wandte den Fenstern den Rücken zu. Auch die sich sanft im Wind wiegenden Palmen und der blaue Himmel von Newport Beach konnten die Atmosphäre in dem mahagonigetafelten und mit Antiquitäten eingerichteten Büro nicht aufheitern, und Jiminez' Silhouette wirkte irgendwie bedrohlich. Pater Duran, der noch keine dreißig und somit etwa fünfundzwanzig Jahre jünger als Pater Jiminez war, war blaß und mager mit asketischen Gesichtszügen. Der junge Priester schien von den Satsumavasen, Weihrauchgefäßen und -schalen der Meiji-Epoche fasziniert zu sein, die in einer großen Vitrine am anderen Ende des Büros standen, aber Hatch wurde das Gefühl nicht los, als wäre Durans Interesse an dem japanischen Porzellan nur gespielt, als würde der
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