Das Versteck
mitschwang, obwohl er sich doch nach Kräften bemühte, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Er wurde wirklich alt. »Tragen Sie eine Nachtsichtbrille oder so was ähnliches, irgendeine militärische Erfindung? Aber wie zum Teufel sollten Sie an so was herankommen?«
Ohne seine Frage zu beantworten, sagte der Junge: »Wissen Sie, ich brauche nicht viel, nur Essen und Kleider zum Wechseln. Normalerweise komme ich nur zu Geld, wenn ich meine Sammlung um ein neues Exponat erweitere. Aber manche haben nicht viel bei sich, nur ein paar Dollar. Dieses Geld ist wirklich eine Hilfe. Eine große Hilfe. Es müßte eigentlich reichen, bis ich dorthin zurückkehren kann, wo ich hingehöre. Wissen Sie, wohin ich gehöre, Mr. Redlow?«
Der Detektiv gab keine Antwort. Die Silhouette des Jungen war vom Fenster verschwunden, und er versuchte mit zusammengekniffenen Augen in der Dunkelheit irgendeine Bewegung auszumachen. Es beunruhigte ihn, nicht zu wissen, wo der Kerl war.
»Wissen Sie, wohin ich gehöre, Mr. Redlow?« wiederholte der Junge.
Redlow hörte, wie ein Möbelstück verrückt wurde. Vielleicht einer der Beistelltische neben dem Sofa.
»Ich gehöre in die Hölle«, erklärte der Junge. »Ich war eine Weile dort. Ich möchte dorthin zurückkehren. Was für ein Leben haben Sie geführt, Mr. Redlow? Glauben Sie, daß ich Sie in der Hölle treffen könnte, wenn ich dorthin zurückkehre?«
»Was machen Sie?« fragte Redlow.
»Ich suche nach einer Steckdose«, antwortete der Junge, während er ein weiteres Möbelstück beiseite schob. »Ah, hier ist eine.«
»Eine Steckdose?« fragte Redlow beunruhigt. »Wozu?«
Ein gräßliches Geräusch durchschnitt die Dunkelheit: ssssrrrrr.
»Was war das?«
»Nur ein kleiner Test, Sir.«
»Was haben Sie da getestet?«
»Sie haben da draußen in der Küche alle möglichen Töpfe und Pfannen und Feinschmeckerutensilien. Kochen ist wohl eines Ihrer Hobbys?« Der Junge richtete sich auf und war nun wieder vor dem Hintergrund der aschgrauen Fensterscheibe zu erkennen. »Haben Sie vor Ihrer zweiten Scheidung gern gekocht – oder ist das Hobby neueren Datums?«
»Was haben Sie getestet?«
Der Junge näherte sich dem Stuhl.
»Ich habe noch mehr Geld im Haus«, sagte Redlow hastig. Der Schweiß rann ihm jetzt in Strömen über das Gesicht und durchtränkte seine Kleider. »Im Schlafzimmer.« Der Junge beugte sich wieder über ihn, eine mysteriöse und unmenschliche Gestalt. Er schien dunkler als alles um ihn herum zu sein, ein schwarzes Loch in Menschengestalt, schwärzer als schwarz. »Im W-Wandschrank. Er hat einen H-H-Holzboden.« Die Blase des Detektivs war plötzlich voll. Innerhalb von Sekunden war sie prall wie ein Ballon geworden. Drohte zu platzen. »N-Nehmen Sie die Schuhe und das andere Zeug raus und heben Sie die hintersten B-B-Bretter ab.« Gleich würde er sich in die Hose machen. »In der G-Geldkassette sind dreißigtausend Dollar. Nehmen Sie sie. Bitte. Nehmen Sie sie und gehen Sie.«
»Vielen Dank, Sir, aber ich brauche dieses Geld nicht. Ich habe genug, mehr als genug.«
»O Gott, steh mir bei!« Redlow war sich verzweifelt bewußt, daß er zum erstenmal seit Jahrzehnten Gott angesprochen – oder auch nur an Ihn gedacht – hatte.
»Unterhalten wir uns lieber darüber, für wen Sie in Wirklichkeit arbeiten, Sir?«
»Ich habe Ihnen doch schon gesagt …«
»Aber ich habe gelogen, als ich sagte, daß ich Ihnen glaube.«
Ssssssrrrrrrr
»Was ist das?« fragte Redlow.
»Ein Test.«
»Was testen Sie da, verdammt noch mal?«
»Es funktioniert wirklich gut.«
»Was? Was ist das? Was haben Sie da?«
»Ein elektrisches Tranchiermesser«, antwortete der Junge.
6
Hatch und Lindsey hatten es auf der Rückfahrt vom Abendessen nicht eilig. Anstatt über die Autobahn fuhren sie gemächlich die Küstenstraße entlang, hörten K-Earth 101,1 auf UKW und sangen bei Oldies wie »New Orleans«, »Whispering Bells« und »California Dreamin'« laut mit. Lindsey konnte sich nicht erinnern, wann sie das zuletzt getan hatten, obwohl es früher geradezu eine Marotte von ihnen gewesen war. Jimmy hatte mit drei Jahren den ganzen Text von »Pretty Woman« auswendig gekannt, und mit vier hatte er »Fifty Ways to Leave Your Lover« singen können, ohne eine Zeile auszulassen. Zum erstenmal seit fünf Jahren konnte sie an Jimmy denken und trotzdem fröhlich weitersingen.
Sie lebten in Laguna Niguel, südlich von Laguna Beach, auf der Ostseite der Küstenhügel, wo man zwar
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