Das Versteck
keinen Blick auf den Ozean hatte, aber trotzdem von den Meeresbrisen profitierte, die die Sommerhitze ebenso wie die Winterkälte mäßigten. Diese Wohngegend war – wie die meisten anderen in Südkalifornien – auf dem Reißbrett entworfen worden, und zwar mit solcher Pedanterie, daß man hätte glauben können, die Städteplaner hätten allesamt eine militärische Vergangenheit. Aber die anmutig gewundenen Straßen, die schmiedeeisernen Straßenlaternen mit künstlicher grüner Patina, die Arrangements von Palmen, Jacaranda und Gummibäumen sowie die gepflegten Grünstreifen mit bunten Blumenbeeten wirkten so beruhigend auf Augen und Seele, daß die übertriebene Ordnung nichts Beklemmendes an sich hatte.
Als Künstlerin glaubte Lindsey, daß menschliche Hände genauso befähigt waren, Schönheit zu erschaffen, wie die Natur und daß Disziplin eine Grundvoraussetzung für die Entstehung echter Kunst war, weil die Kunst einen Sinn im Chaos des Lebens offenbaren sollte. Deshalb verstand sie auch den Impuls der Planer, die unzählige Stunden damit verbracht hatten, alles harmonisch aufeinander abzustimmen, bis hin zu solchen Kleinigkeiten wie den gußeisernen Kanalgittern in den Rinnsteinen. Ihr zweistöckiges Haus, in dem sie erst seit Jimmys Tod lebten, war in italienisch-mediterranem Stil gebaut, wie alle anderen Häuser in dieser Gegend mit mexikanischem Ziegeldach und cremefarbenen Stuckverzierungen. Zwei große Gummibäume flankierten die Einfahrt. Im Licht der Gartenlaternen sah man Beete mit Fleißigen Lieschen und Petunien vor rot blühenden Azaleensträuchern. Als sie in die Garage fuhren, sangen sie die letzten Takte von »You Send Me«.
Während Lindsey im Bad war, schaltete Hatch das Gasfeuer des Wohnzimmerkamins ein, und während er im Bad war, schenkte sie für jeden einen Baileys auf Eis ein. Sie setzten sich auf das Sofa vor dem Kamin und legten ihre Füße auf die dazu passende große Ottomane.
Alle Polstermöbel im Haus waren modern, mit weichen Linien und in hellen Naturtönen. Sie bildeten einen reizvollen Kontrast – und einen gelungenen Hintergrund – für die vielen Antiquitäten und für Lindseys Gemälde.
Das Sofa war überaus bequem, regte zu Gesprächen an, verführte aber auch – wie sie heute zum erstenmal feststellte – zum Kuscheln. Zu ihrer Überraschung wurde aus Kuscheln bald Streicheln und Umarmen, und das ging irgendwie in Petting über, als wären sie zwei gottverdammte Teenager. Lindsey wurde von der Leidenschaft gepackt wie seit Jahren nicht mehr.
Wie in einer Reihe von Überblendungen im Spielfilm zogen sie ganz langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen aus, bis sie schließlich nackt waren, ohne so recht zu wissen, wie es passiert war. Und auf genauso geheimnisvolle Weise waren sie plötzlich vereinigt und bewegten sich in einem sanften Rhythmus, während das flackernde Kaminlicht über ihre Körper glitt. Die beglückende Natürlichkeit dieses Aktes, der sich von träumerischer Zärtlichkeit zu atemloser Ekstase steigerte, stand in krassem Gegensatz zu den stumpfen Pflichtübungen, die sie in den letzten fünf Jahren absolviert hatten, und Lindsey hätte fast glauben können, es wäre tatsächlich nur ein schöner Traum, der sich aus Erinnerungsfetzen an Hollywood-Erotik speiste. Doch während ihre Hände über die Muskeln an seinen Armen und Schultern glitten, während sie sich seinen Stößen entgegenwölbte, während sie zum Höhepunkt kam, und dann gleich noch einmal, und während sie spürte, wie er sich in ihr verlor und seine stählerne Härte in einem sanften Fluß verschmolz, war sie sich jede Sekunde selig bewußt, daß dies kein Traum war. Ganz im Gegenteil, sie hatte ihre Augen nach einem langen Dämmerschlaf endlich geöffnet und war zum erstenmal seit Jahren hellwach. Der eigentliche Traum war das wirkliche Leben des letzten halben Jahrzehnts gewesen, ein Alptraum, der nun zu Ende war.
Ohne sich die Mühe zu machen, ihre auf dem Teppich verstreuten Kleidungsstücke aufzusammeln, gingen sie in ihr Schlafzimmer hinauf, um sich noch einmal zu lieben, diesmal in dem riesigen chinesischen Bett. Sie ließen sich jetzt mehr Zeit für zärtliche Vorspiele und für Liebesgeflüster, das sich fast so lyrisch und melodisch anhörte wie ein leises Lied. Durch den langsameren Rhythmus konnten sie nun die Zartheit ihrer Haut, die Flexibilität der Muskeln, ihre festen Knochen, weichen Lippen und ihren synkopischen Herzschlag viel bewußter wahrnehmen. Als die
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