Das verstummen der Kraehe
bleierne Leere in meinem Inneren ließ mich müde werden. Als ich die Augen kaum noch offen halten konnte, ging ich ins Bett. Es dauerte keine fünf Minuten, da sprang Rosa mit einem Satz auf die Decke und kuschelte sich an mich.
Aber der Schlaf brachte keine Linderung. Im Traum sah ich einen Erdhügel, der frisch aufgeschüttet worden war. Drum herum waren Fackeln aufgestellt. Und plötzlich bewegte sich die Erde. Erst war nur eine Hand zu sehen, die zweite folgte, schließlich tauchte ein dunkelblonder Schopf auf. Dann stand der Mann mit dem Rücken zu mir auf seinen Beinen, klopfte sich die Erde von Hose und T-Shirt, strich sich durch die Haare. Ich lief auf ihn zu und stoppte abrupt, als ich nur noch einen Meter von ihm entfernt war. Ich streckte meine Hand aus, wollte ihn berühren, aber da riss mich das Klingeln des Telefons aus dem Traum. Ich versuchte es zu ignorieren und zurückzukehren, aber es funktionierte nicht. Mit klopfendem Herzen griff ich nach dem Mobilteil und meldete mich.
In der Leitung empfing mich nur Stille. Kein Atmen wie bei den vorangegangenen anonymen Anrufen war zu hören. Ich warf einen schnellen Blick aufs Display: keine Nummer. Meine Bitte an den Anrufer, sich zu melden, zeigte keine Wirkung. Und wenn es Ben ist? , schoss es mir einen irrwitzigen Moment lang durch den Kopf. Wenn das seine Art ist, mir zu sagen, dass er lebt? Aber Ben hätte sich nicht erst jetzt für ein Lebenszeichen entschieden. Trotzdem blieb ich am Telefon und flüsterte seinen Namen in die Leitung. Zur Antwort erhielt ich das Atmen, das ich bereits kannte. Ohne ein Wort beendete ich den Anruf und lief von Raum zu Raum, um die Vorhänge zu schließen.
Das Telefon klingelte erneut. Bevor ich mich meldete, sah ich aufs Display. Wieder wurde keine Nummer angezeigt. Ich war versucht, dem Anrufer ein paar deftige Flüche mitzugeben, unterdrückte sie jedoch.
»Vielleicht wäre es keine schlechte Idee, sich in den Gelben Seiten mal nach einem Sprechlehrer umzutun«, sagte ich betont freundlich. »Sobald Sie ein paar elementare Wörter beherrschen, dürfen Sie sich gerne wieder melden.«
Kaum hatte ich die Verbindung unterbrochen, klingelte es erneut. »Falls Sie das Wort elementar nicht kennen, empfehle ich ein Wörterbuch!« Ich wollte gerade wieder auflegen, als Martins Stimme mich zurückhielt.
»Ich gehe mal davon aus, dass es sich hier um eine Verwechslung handelt«, sagte er amüsiert. »Ich könnte dir ja jetzt ein paar elementare Wörter ins Ohr flüstern, aber die willst du sicher nicht hören.«
»Wieso hast du deine Rufnummernanzeige deaktiviert?«, fragte ich misstrauisch.
»Weil ich von meinem privaten Handy aus anrufe und ich mein Privatleben schätze.«
»Hast du eben schon mal angerufen?«
»Nein.«
»Und wieso rufst du jetzt an?«
»Kristina, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du dich hin und wieder etwas spröde gibst?«
Ich schwieg.
Dann holte er Luft. »Ist irgendetwas passiert? Warum bist du so aufgebracht?«
»Das geht dich nichts an.«
»Verstehe. Würdest du trotzdem ein Glas Wein mit mir trinken? Ich stehe nämlich vor deiner Tür und …«
»Ist dir klar, wie spät es ist?«
»Ziemlich genau.«
»Das geht nicht, Martin.«
»Klemmt deine Tür, oder bist du nicht allein?«
Einen Moment zögerte ich. Nur ein Glas Wein, beruhigte ich mich. Nichts weiter. Völlig ungefährlich. Mit dem Hörer am Ohr lief ich die Treppe hinunter und öffnete die Tür. Erst als ich einen Schritt hinaustrat, sah ich ihn. Er stand gegen die Hauswand gelehnt und schob gerade sein Handy in die Hosentasche. Eine Flasche Wein klemmte unter seinem Arm. In seinen Haaren glitzerten Regentropfen. Er deutete mit dem Kopf in Richtung der Laterne, in der Bens Kerze ruhig brannte.
»Das Licht hat mich angelockt«, sagte er mit schalkhafter Miene.
Ich klärte ihn nicht auf. »Ein Glas, dann werfe ich dich hinaus. Ich habe morgen viel zu tun. Komm mit. Aber sei leise!« Ich ging zurück ins Haus.
Vor der Briefkastenanlage im Flur blieb er stehen und studierte den gelben Zettel, den mein Vater mit Ich gebe die Hoffnung nicht auf, Evelyn beschrieben hatte. Ich stellte mich neben Martin und las den Kommentar meiner Mutter: Das ist allein deine Entscheidung! Welcher Teufel hatte sie denn da geritten? Vielleicht hatte er ihre Antwort noch nicht gelesen. Ich nahm den Zettel kurzerhand ab und zerknüllte ihn. Martin sah mir mit hochgezogenen Augenbrauen dabei zu.
»Frag nicht! Ich könnte es dir ohnehin nicht mit
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