Das verstummen der Kraehe
aufgeflogen, und haben die ihn umgebracht?«
»Er könnte auch Mitglied dieser Bande geworden und untergetaucht sein«, sagte sie in einem Ton, als versuche sie mir auf schonende Weise eine Wahrheit nahezubringen, die in ihren Augen auf der Hand lag.
»Nicht Ben!«, schrie ich sie an. »Das hätte er keinem von uns angetan. Wäre er tatsächlich untergetaucht, hätte er einen Weg gefunden, uns das mitzuteilen. Begreif das endlich!« Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, nahm die Rotweinflasche und füllte mein Glas. Dann trank ich einen großen Schluck. »Und jetzt sag mir verdammt noch mal, was du damit zu tun hast!« Rosa hatte genug von der aufgeladenen Atmosphäre. Sie erhob sich von meinen Füßen und verließ die Küche.
Henrike kam zum Tisch zurück und setzte sich. Sie holte tief Luft, als könne sie sich mit Sauerstoff wappnen. »Diese Bankenbande, um die es hier geht, ist immer noch aktiv. Vor ungefähr zwei Jahren wurde ein verdeckter Ermittler auf sie angesetzt. Er war ein Programmiergenie und …«
»War?«
»Vor anderthalb Jahren wurde er halb totgeschlagen und schließlich in der Isar ertränkt.«
Dieser Satz traf mich wie ein Schlag in die Magengrube. Einen Moment lang war es still in der Küche, nur das Prasseln des Regens war zu hören.
»Dieser Mann war ein sehr guter Freund von mir«, fuhr sie fort. »Und ein Kollege.«
»Du bist eine verdeckte Ermittlerin?«, fragte ich mit brüchiger Stimme. Ich brauchte einen Moment, um mir die Tragweite vorzustellen. »Gegen wen ermittelst du? Gegen Ben? Gegen meine Eltern? Oder gegen mich?«
Henrike legte beide Hände auf den Tisch. »Dem Kollegen, der umgebracht wurde, ist in der Szene das Gerücht zu Ohren gekommen, Ben sei abgetaucht, um lukrativen Geschäften nachzugehen. Er habe sich unter anderem Namen auf den Bahamas niedergelassen, spiele dort bei Bedarf den Geldboten und lasse es sich gut gehen.«
»Nein! Das stimmt nicht! Da hat jemand eine falsche Fährte gelegt!« Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Hast du dich deshalb bei uns eingeschlichen?« Ich ließ ihr keine Zeit zu antworten, sondern feuerte alle Fragen ab, die mir auf der Seele brannten. »Bist du deshalb zu uns auf den Hof gekommen und hast mir deine Freundschaft angeboten? Nur um mich und meine Eltern auszuspionieren? Wolltest du herausfinden, ob wir vielleicht regelmäßig mit Ben skypen?« Meine Enttäuschung war wie ein Fass ohne Boden. »Kannst du dir vorstellen, wie weh das tut? Vor ein paar Minuten noch habe ich dich für meine Freundin gehalten. Du …«
»Ich bin deine Freundin, Kris«, unterbrach sie mich.
»Wage es nicht, dieses Wort mir gegenüber noch einmal in den Mund zu nehmen! Ich will wissen, wie ihr das rechtlich gedeichselt habt. Der Einsatz eines verdeckten Ermittlers ist Ultima Ratio. Erst einmal müssen alle anderen kriminalistischen Methoden ausgeschöpft werden, observieren, abhören und all das. So viel weiß ich noch aus meinem Studium. Oder wurden wir etwa …?«
»Keine Sorge, ihr wurdet weder abgehört noch observiert. Und …«
»Da können wir ja wirklich dankbar sein.« Ich stieß Luft durch die Nase. »Bist du dir nicht lächerlich dabei vorgekommen? Ich meine, gegen uns verdeckt zu ermitteln ist, als würde man mit Kanonen auf Spatzen schießen.«
»Ich habe nicht verdeckt gegen euch ermittelt. Jedenfalls nicht offiziell.« Henrike sah auf ihre Hände. »Nachdem dieser Freund von mir ermordet wurde, habe ich mich für ein paar Jahre beurlauben lassen. Ich hatte das schon länger vorgehabt. Um in Ruhe darüber nachdenken können, ob ich wirklich weiter in gefälschte Identitäten schlüpfen wollte, immer wieder in ein Umfeld eintauchen, dem ich etwas vorspiele, das ich ausforsche. Ich habe das über so viele Jahre getan, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, mich zu verlieren. Ich wollte endlich Freundschaften pflegen und ein normales Leben führen können. Ich …«
»Mir kommen gleich die Tränen«, sagte ich sarkastisch.
Sie sah mich traurig an. »Ich verstehe, dass du wütend auf mich bist, du …«
»Wütend ist eine bodenlose Untertreibung für das, was ich empfinde. Hättest du deine verdammte Selbstfindung nicht an einen anderen Ort verlegen können? Warum musstest du ausgerechnet bei uns auftauchen?«
Obwohl mein Blick eine einzige Anklage war, wich Henrike ihm nicht aus. »Weil mir der Tod dieses Freundes sehr nahegegangen ist. Und weil ich wissen wollte, warum er sterben musste. Der einzige Anhaltspunkt,
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