Das verstummen der Kraehe
Laternentür und entzündete die Kerze. Als die kleine Glastür wieder eingerastet war, richtete ich mich auf und atmete aus. »So, das war’s.«
»Kommst du auf einen Kaffee zu mir?«, fragte meine Mutter.
Ich schüttelte den Kopf. »Keine Zeit. Heute fängt meine neue Mitarbeiterin an, und ich muss noch einiges vorbereiten.«
»Bitte … nur für fünf Minuten.«
Die Küche meiner Mutter war vom Duft frisch gebrühten Kaffees und aufgebackener Semmeln erfüllt. Sie stellte zwei dampfende Becher auf den runden Holztisch, um den herum Stühle in unterschiedlichen Formen und Farben standen. Ich saß wie immer auf dem hellblauen, sie auf dem lilafarbenen. Auch in den offenen Regalen, die mit Geschirr, Töpfen und Gläsern vollgestellt waren, ging es bunt zu. Nur bei der Deckenlampe, die aussah wie ein umgedrehter Eimer, hatte sie sich für Weiß entschieden.
Für sich selbst bevorzugte meine Mutter von jeher gedecktere Töne. Sie trug oft Schwarz, wobei sie ihren Stil ganz bewusst an der Mode orientierte und nicht an ungeschriebenen Gesetzen, wie eine Achtundfünfzigjährige sich zu kleiden habe. An diesem Morgen steckte ihr Körper in einem anthrazitfarbenen Jogginganzug, der ihre weibliche Figur betonte. Um die Hüften hatte sie einen Pulli geschlungen.
Ich ließ meinen Blick über ihr Gesicht gleiten, das von dunkelbraunen, von Silberfäden durchzogenen Haaren gerahmt wurde, die ihr bis zur Schulter reichten. Um ihre braunen Augen herum hatte sich ein Gespinst von Fältchen gebildet, ihre Haut war durchscheinend geworden. Wie ein Wäschestück vom häufigen Waschen sei ihre Haut von den vielen Tränen strapaziert worden, hatte sie einmal gesagt. Nicht nur die Haut. Auch ihre Augen schienen dem Weinen näher als dem Lachen. Immer noch. Aber wie hätte sich das auch ändern sollen?
Mein Blick wanderte zu dem Foto auf der Fensterbank, das meinen zwei Jahre jüngeren Bruder Ben und mich Arm in Arm zeigte. Es war ein paar Wochen vor seinem Verschwinden aufgenommen worden. Im Aussehen schlugen wir eindeutig nach unserem Vater. Ben hatte dunkelblondes Haar, meines war etwas heller und fiel mir in Wellen weit über die Schultern. Beide hatten wir hohe Wangenknochen und grüne Augen, seine waren grünbraun, meine grün mit einem Hauch von Bernstein. Ich hatte die vollen Lippen meiner Mutter geerbt. Groß gewachsen waren wir beide, allerdings überragte er mich mit einem Meter sechsundachtzig um zehn Zentimeter.
Ben hatte mir kurz vor der Aufnahme dieses Fotos verraten, dass er beabsichtige, sein Informatikstudium an den Nagel zu hängen, weil es ihm kaum neue Erkenntnisse beschere. Was er ohne einen Abschluss anfangen wolle, hatte ich ihn gefragt, und zur Antwort bekommen, ihm werde schon etwas einfallen. Und dann war ich diejenige gewesen, die sich von einem Tag auf den anderen etwas hatte einfallen lassen müssen. Ich schob die Erinnerung beiseite.
Nur mit Tanktop und Schlafanzughose bekleidet, begann ich allmählich zu frieren. Der Kaffee war noch zu heiß, um ihn zu trinken. Ich zog die Knie an, stützte die Fersen auf der Stuhlkante ab und schlang die Arme um die Unterschenkel.
»Du bist viel zu dünn angezogen, Kris. Möchtest du dir meinen Pulli umlegen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich heiß duschen.«
Ihr Blick wanderte ziellos im Raum umher. Sie verschränkte ihre Hände ineinander, sodass die Knöchel weiß hervortraten. »Wie kann das sein?«
Als ich nicht sofort antwortete, wiederholte sie die Frage. Dieses Mal zitterte ihre Stimme.
»Vielleicht ist der Docht feucht geworden, oder eine Windböe hat es durch eine der Ritzen geschafft. Vielleicht wollte uns jemand einen Streich spielen«, versuchte ich meine Mutter zu beruhigen.
»Jemand, der uns kennt, müsste schon ein Sadist sein, um so etwas zu tun. Und Fremde wissen überhaupt nicht, welche Bedeutung diese Kerze für uns hat.«
»Mindestens zwei Zeitungen haben damals darüber berichtet. Über dieses Hoffnungslicht für Ben .«
»Selbst wenn sich noch jemand daran erinnern würde … so etwas tut doch keiner, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Und ich weigere mich, an diesen übersinnlichen Hokuspokus zu glauben! Es reicht, wenn Papa überzeugt ist, Ben sei am Leben, solange diese Kerzen brennen.« Ich nahm den Kaffeebecher und stand auf.
Meine Mutter zog die Brauen zusammen. Eine steile Falte teilte ihre Stirn in zwei Hälften. »Und warum warst du vorhin so verstört da draußen?« Es lag nichts Rhetorisches in dieser
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