Das verstummen der Kraehe
den ich hatte, war der Hinweis, dass dein Bruder untergetaucht sein könnte. Also bin ich nach München gezogen und habe mich mit Bens Verschwinden beschäftigt. Als ich dann vor einem Jahr an eurer Hofzufahrt das Schild entdeckte, dass die Scheune zu vermieten war, habe ich zugeschlagen.«
»Und das im wahrsten Sinne des Wortes.«
Henrike zündete sich eine weitere Zigarette an und inhalierte tief. »Glaub mir, es ist mir nicht leichtgefallen, euch so zu täuschen, es …«
»Wieso? Das müsste dir bei deinem Job doch in Fleisch und Blut übergegangen sein.« Ich wischte mir Tränen aus den Augenwinkeln. »Wie bist du eigentlich auf die Idee mit dem Trödelladen und den Entrümpelungen gekommen? Weil ich als Nachlassverwalterin arbeite? Ist das deine Vorstellung von Selbstfindung? Und findest du es nicht paradox, dass du dich als verdeckte Ermittlerin beurlauben lässt, nur um inoffiziell damit weiterzumachen? Klingt ein wenig nach Suchtverhalten, wenn du mich fragst!«
Henrike sah auf die Zigarette in ihrer Hand und verzog den Mund.
»Seit einem Jahr beschnüffelst du uns und …« Meine Stimme brach.
Sie schüttelte den Kopf. »Mir war ziemlich bald klar, dass ihr tatsächlich nichts über Ben wisst. Zu dem Zeitpunkt hätte ich meine Zelte hier abbrechen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden können. Aber dann wurde mir bewusst, wie gerne ich hier auf dem Hof bin, mit dir, deinen Eltern und Simon. Was für ein besonderes Leben es mit euch ist. Das wollte ich nicht aufgeben. Deshalb bin ich geblieben. Und auch wenn du es mir im Moment nicht glaubst, ich bin froh, dich zur Freundin zu haben.«
Ich wollte nichts mehr hören von Freundschaft und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie heißt du wirklich? Woher kommst du? Ich nehme mal an, dass alles, was wir von dir zu wissen glauben, eine einzige Lüge ist!«
»Nein«, entgegnete sie ruhig. »Mein Name ist Petra Elisabeth Henrike Hoppe, ich wurde in Kiel geboren. Und ich wünsche mir, dass du mir die Chance gibst …«
»Du willst eine Chance?«, brach es aus mir heraus.
»Ich habe dich nie belogen, Kris!«
»Nein, das hast du tatsächlich nicht. Du hast mir nur jede Menge verschwiegen.« Ich spürte, wie ich in einem Meer von Selbstmitleid unterzugehen drohte. »Ich war glücklich, endlich wieder eine Freundin gefunden zu haben. Es war ein so gutes Gefühl zu wissen, dass da jemand ist, der mich versteht und dem ich vertrauen kann. Hast du eine Ahnung, wie sich das jetzt anfühlt? Wie weh das tut?« Ich schloss für einen Moment die Augen und versuchte mich zu beruhigen. »Was ist mit Arne? Weiß er von alldem?«
»Nein. Und er darf es auch nicht erfahren. Er würde unsere Beziehung sofort beenden, wenn er wüsste, dass ich demselben Verein angehöre wie sein Vater.«
»Du kannst es ihm doch nicht verschweigen!«
»Unsere Beziehung ist noch zu frisch.« Henrike presste die Lippen zusammen und atmete schließlich aus, als habe sie viel zu lange die Luft angehalten. Sie sah mich durchdringend an. »Möchtest du, dass ich meine Zelte hier abbreche?« Das Trommeln des Regens gegen die Fensterscheibe verschluckte ihre Worte fast.
Mir lag ein Ja auf der Zunge. Unsere Freundschaft hatte einen Riss bekommen. Er war zu tief, um einfach so weiterzumachen. Als hätte es dieses Gespräch nie gegeben, das mich in ein Gefühlschaos aus Wut, Enttäuschung und Traurigkeit gestürzt hatte. Mein Schweigen lastete schwer zwischen uns.
»Du wolltest die Wahrheit wissen, Kris«, sagte sie nach einer Weile leise.
Ich richtete meinen Blick ins Leere. »Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll, Henrike. Ich weiß es verdammt noch mal nicht.«
21
Henrike war um kurz nach elf gegangen. Kaum war sie fort, hatte ich die Küchentür zugeschlagen, um den Duft aus Moschus und Zigaretten daran zu hindern, sich in meiner Wohnung auszubreiten. Im Wohnzimmer schob ich Rosa, die sich auf dem Sofa breitgemacht hatte, ein Stück zur Seite und setzte mich neben sie. Ich hatte das Gefühl, in meiner Enttäuschung zu versinken wie in morastigem Boden. In meinem Kopf drehte sich alles.
Wollte ich wirklich, dass Henrike ihre Zelte hier abbrach? Oder gab es einen Weg, mit der veränderten Situation umzugehen? Da ich kaum noch aus diesem Gedankenkarussell herausfand, schloss ich mit mir selbst einen Handel. Ich würde mir Zeit nehmen. Irgendwann würden die Antworten vielleicht von selbst kommen. Ich hatte gelernt, mit großen Fragezeichen zu leben, mit größeren als diesen.
Die
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