Das verstummen der Kraehe
nichts drin.«
»Lass uns auf Nummer sicher gehen. Es gibt auch sehr kleine Datenträger.«
Widerstrebend holte ich die Schere aus der Küche und sah dabei zu, wie Henrike das Huhn aufschnitt und ausnahm. So sorgfältig, wie sie das tat, wäre ihr sogar ein Gegenstand von der Größe eines Stecknadelkopfes aufgefallen. Wie sollte ich nur meinen Eltern das zerstörte Huhn erklären?
»Da ist nichts«, sagte Henrike und sah mich entschuldigend an.
Ich nahm ihr das Stofftier aus der Hand und schob es unters Bett.
»Vielleicht müssen wir im Hühnerstall nachsehen. Wieso sollte ein Vierundzwanzigjähriger sein Stofftier für ein Foto im Stall platzieren und dann noch dazuschreiben, es habe ein Ei gelegt? Das ist doch merkwürdig«, meinte Funda. »Und es ist ja nicht so, als wäre es ein Foto von außergewöhnlicher künstlerischer Qualität, es ist …« Sie suchte noch nach den passenden Worten, als Henrike und ich bereits die Treppe hinunterstürmten.
Wir mussten den halben Hühnerstall umgraben, bis wir auf eine kleine Metallkassette stießen. Darin lag eine externe Festplatte, die so gar nicht nach einem Scherz aussah. Wie ich am nächsten Tag von Henrike erfuhr, die den Datenträger bereits eine Stunde später bei den zuständigen Kollegen abgegeben hatte, befanden sich tatsächlich Fotos und Namen darauf. Außerdem Informationen über Abläufe und geplante Projekte . Nils Bellmann war einer der Namen, die auf der Festplatte auftauchten. Wie Henrike mir sagte, war er nach Bens Verschwinden als sein Mitbewohner genauso wie Matthias Schütze im Visier der Ermittler gewesen. Aber es hatte sich nicht einmal der leiseste Anhaltspunkt um ihn herum ergeben.
Funda strahlte vor Genugtuung, dass sie es gewesen war, die Bens Versteck gefunden hatte. Mit einem Augenzwinkern meinte sie zu mir, Henrike müsse noch viel lernen, bevor das mit dem Krimischreiben etwas werde.
An dem Tag, an dem Nils verhaftet wurde, saß ich auf der Steinmauer, auf der bis vor Kurzem die Bonsais meiner Mutter gestanden hatten. Die Blumentöpfe, die ich dort platziert hatte, damit die Mauer nicht so nackt aussah, waren verschwunden. An ihre Stelle war der Bonsai gerückt, den mein Vater meiner Mutter zum Trost geschenkt hatte. Er sah mickrig aus und hatte nichts mit den kunstvoll geformten Bäumchen zu tun, die meine Mutter herangezogen hatte. Aber darauf kam es nicht an. Hauptsache, er stand überhaupt dort.
Bevor ich zurück ins Büro ging, warf ich noch einen Blick auf Bens Kerze. Sie brannte – wie in jeder Minute der vergangenen sechs Jahre, von einer einzigen Ausnahme einmal abgesehen. Und sie würde weiterbrennen, wie mein Vater beschlossen hatte. Er hatte es nicht über sich gebracht, sie auszublasen.
»Warum auch?«, hatte Funda ihn gefragt.
»Weil sie ein Licht der Hoffnung war«, hatte er geantwortet. »Aber Ben ist tot. Wir haben unsere Hoffnung mit ihm begraben.«
»Dann ist sie jetzt eben ein Licht der Erinnerung«, hatte sie mit ihrer Zimmerbrunnenstimme entgegnet.
Anmerkung der Autorin:
Bestimmte juristische Formulierungen habe ich zugunsten der allgemeinen Verständlichkeit modifiziert und dadurch möglicherweise nicht ganz exakt dargestellt. Das habe ich bewusst in Kauf genommen, um dem Spaß am Lesen den Vorrang zu geben.
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