Das verstummen der Kraehe
Freund zu sein. Er schrieb: Ich habe früh begriffen, dass ich Freund sein muss, um Freundschaft zu schließen. Mit Theo war es fürs Leben. Wir waren wie Brüder, die sich aufeinander verlassen konnten. Es war nicht so, dass wir uns wortlos verstanden. Ganz im Gegenteil: Manches Mal brauchten wir viele Worte, um dem anderen begreiflich zu machen, worum es im Wesentlichen ging. Ich werde Theos Geschichte, die viel zu früh geendet hat, auf späteren Seiten noch erzählen. Erst will ich von Frank schreiben, mit dem ich erst Freundschaft schloss, als ich kurz vor meinem fünfzigsten Lebensjahr stand.
Ich ließ das Heft sinken und dachte an Johann Ehlers’ Beerdigung. Da es keine Erben gab, hatte ich sie organisiert. Außer zwei alten Frauen aus seiner Nachbarschaft hatte niemand daran teilgenommen. Vermutlich war also nicht nur sein Freund Theo vor ihm gestorben, sondern auch Frank. Oder aber sie hatten sich entzweit.
Unweigerlich musste ich an Henrike und meinen eigenen Anspruch an Freunde denken. Er schien von Johann Ehlers’ nicht so weit entfernt zu sein. Aufrichtigkeit stand ziemlich weit oben auf meiner Liste. Wie sollte jemand, dessen Beruf es war, unaufrichtig zu sein, sich immer wieder hinter Lügen zu verbergen, zur Freundin taugen? Ich hatte sie von Anfang an gemocht, und ich mochte sie noch immer. Aber kannte ich sie überhaupt? Es dürfte nicht schwer gewesen sein, meine Sehnsucht nach einer Freundin zu erkennen und in eine entsprechende Rolle zu schlüpfen. Meine früheren Freundschaften waren im Sande verlaufen, nachdem mein Leben sich durch Bens Verschwinden grundlegend geändert und sich von dem meiner Freundinnen zu stark unterschieden hatte. Wir hatten uns alle bemüht, aber es war uns nicht gelungen, uns nah zu bleiben.
Martin hatte gesagt, ich solle mir Zeit geben. Aber wie sollte ich Henrike weiter tagtäglich sehen und nicht an die Umstände denken, die sie zu uns auf den Hof geführt hatten? Sie würde ihre Sachen packen und gehen müssen. Und das möglichst schnell. Ich wollte sie nicht mehr sehen, es war alles gesagt. Für meine Eltern, Simon und Arne würde sie sich eine gute Begründung einfallen lassen müssen. Aber Henrike war das Lügen ja gewohnt, sie würde sich nicht schwer damit tun. Sie …
Das Klingeln des Handys riss mich aus meinen Gedanken. Simons Nummer stand im Display. Wieso rief er in aller Herrgottsfrühe an? War etwas passiert? Mein Herzschlag beschleunigte sich.
»Was ist los?«, fragte ich.
»Ich wollte dir nur Guten Morgen sagen«, antwortete Simon gut gelaunt.
»Es ist Viertel nach sechs!«
»Um die Zeit bist du doch sonst längst wach.«
Ich verfluchte Henrike, die mir ein Versprechen abgenommen hatte, das so schwer zu halten war. Wie schwer, das merkte ich erst jetzt, da ich Simon so gerne davon erzählt hätte. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen der halben Flasche Wein, die ich mit Martin getrunken hatte. Es gab zu viele Geheimnisse.
»Kris, was ist los?« Simon klang beunruhigt.
»Gar nichts, ich bin nur müde. Warum schläfst du nicht?«
»Ich habe geschlafen und bin aus einem Albtraum aufgewacht.«
Simon hatte einen wiederkehrenden Traum, in dem er als Kind auf einen Turm kletterte, auf dem Geländer herumturnte, abrutschte und sich gerade noch mit einer Hand festhalten konnte. Jemand kam und nahm seine Hand. Er wusste nicht, wer es war. Seine Hand rutschte immer weiter aus der der anderen Person. Bevor er abstürzte, wachte er meistens auf.
»Warum gehst du nicht endlich mal …«
»Es war nicht dieser Traum«, unterbrach er mich. »Ich habe geträumt, du würdest mich verlassen. Es hat mich fast zerrissen.«
Ich ließ mich in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen.
»Kris?«
»Ja?«
»Eigentlich rufe ich nur an, um dir zu sagen, wie viel du mir bedeutest. Vielleicht bin ich manchmal ein bisschen zu sparsam mit solchen Geständnissen«, fuhr er fort. »Du tust dich da viel leichter. Ich wollte nur sicher sein, dass du das weißt, dass du nicht am Ende glaubst …«
»Simon«, unterbrach ich ihn leise. »Du bedeutest mir auch sehr viel. Vergiss diesen Traum. Ich habe nicht vor, dich zu verlassen.«
»Und was ist, wenn dir eines Tages ein Mann über den Weg läuft, der sich Kinder wünscht?«
»Ein Kind darf nicht das Zünglein an der Waage sein.«
»Genau das hat Arne auch gesagt.«
Ich musste lachen. »Kluger Arne! Wie war eigentlich deine Weinprobe?«
»Die hätte dir auch gefallen. Es waren einige Weine dabei, die
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