Das verstummen der Kraehe
die Nummer. Während das Freizeichen ertönte, fragte ich mich, ob Ines Wallner wohl immer noch die Besitzerin der Kneipe war. Ben hatte sie als Chefin sehr geschätzt. Sie sei eine Frohnatur und immer fair, hatte er mir des Öfteren von ihr vorgeschwärmt. Ich hatte sie als sehr sympathisch in Erinnerung. Sie war ein paar Jahre älter als ich, ziemlich temperamentvoll und hatte einen burschikosen Charme. Nach Bens Verschwinden hatte ich sie etliche Male gelöchert, um an Hinweise zu kommen. Anfangs war sie mir mit sehr viel Anteilnahme und Geduld begegnet. Aber irgendwann war ich ihr auf die Nerven gegangen. Und selbst das hatte sie noch in nette Worte verpackt.
Am anderen Ende meldete sich ein Mann, den ich wegen des Hintergrundlärms in der Kneipe kaum verstand. Ich fragte ihn nach Ines Wallner, woraufhin er lautstark nach ihr rief und dann offensichtlich den Hörer beiseitelegte. Fast wollte ich schon auflegen, als sie sich endlich meldete. Ich erkannte ihre Stimme sofort wieder, tauschte ein paar Höflichkeitsfloskeln mit ihr aus und erzählte dann, aus welchem Grund ich anrief.
»Robin?«, wiederholte sie den Namen, um sicherzugehen, dass sie mich richtig verstanden hatte.
»Ja, Robin. Er hat auf einer eurer Visitenkarten eine Nachricht für Ben hinterlassen. Sagt dir dieser Name irgendetwas?«
»Ja, natürlich sagt mir der Name etwas.« Der Lärm im Hintergrund schwoll an, sie rief etwas, das ich nicht verstand. »Kristina, sei mir nicht böse, melde dich ein anderes Mal wieder, hier ist die Hölle los. Ciao.«
»Kannst du mir sagen, wo …« Sie hatte aufgelegt. »Mist.«
»Konnte sie mit dem Namen etwas anfangen?« Henrike sah mich gespannt an.
»Ja, aber sie hatte keine Zeit. Ich soll wieder anrufen.«
»Weißt du was? Du brauchst ohnehin mal eine Pause. Ich lade dich zu einem Eis ein. Es gibt in der Kaiserstraße einen Laden, der macht Eis zum Niederknien. Und vorher statten wir dieser Ines Wallner einen Besuch ab.«
»Wir?«
»Im Team sind wir unschlagbar. Wie spät ist es jetzt?«
Die Glocke von St. Georg beantwortete ihre Frage mit zwei tiefen Schlägen.
In Henrikes schwarzem Mini, der dasselbe Baujahr hatte wie sie, donnerten wir im Schein einer strahlenden Septembersonne über die Dachauer Straße in Richtung Maxvorstadt. Im Gegensatz zu meiner alten Gurke erntete dieses Auto ausschließlich Bewunderung. Simon hätte es ihr am liebsten abgekauft, und mein Vater schlich ständig drum herum und bot sogar regelmäßig an, es zu waschen. Henrike hatte für meinen Geschmack einen etwas zu sportlichen Fahrstil. Ein Blick in ihre Miene genügte jedoch, um zu erkennen, wie viel Spaß ihr die ständigen Spurwechsel machten.
»Zu schnell?«, fragte sie.
»Für meinen Nacken heute etwas zu heftig«, gab ich zu.
»Entschuldige, daran habe ich gar nicht gedacht.« Sofort verlangsamte sie das Tempo und warf mir besorgte Blicke zu.
In meiner Tasche klingelte das Handy. Ich nahm es heraus und blickte aufs Display. »Nicht schon wieder.« Genervt drückte ich den Anruf weg und öffnete das Seitenfenster einen Spalt, um das nach kaltem Rauch riechende Wageninnere mit frischer Luft zu füllen.
»Wer war das?«
»Nils Bellmann, einer von Bens ehemaligen Mitbewohnern.«
»Warum gehst du nicht dran?«
»Weil ich immer noch sauer auf ihn bin. Er hätte mir das mit der Festplatte schon vor sechs Jahren erzählen müssen, selbst wenn er das Ganze für einen von Bens Scherzen gehalten hat.«
»Du wolltest Dienstagmorgen beim Frühstück nicht weiter darüber reden, das verstehe ich, aber ich finde, bei dieser Sache stellen sich schon noch einige Fragen. Zum Beispiel, ob dein Bruder tatsächlich zu solchen Scherzen neigte. Ich meine, von Fotos zu reden, die einigen Leuten gefährlich werden könnten und die er an einem sicheren Ort verwahren wollte, finde ich schon ziemlich speziell.«
»Er hatte einen eigenen Humor, du hast ja seine Wand mit den skurrilen Todesanzeigen und Cartoons gesehen.« Ich unterdrückte ein Gähnen.
»Sollte es aber dennoch kein Scherz gewesen sein, stellt sich die Frage, was mit dieser Festplatte geschehen ist.«
Ich winkte ab und öffnete das Fenster noch weiter, was dazu führte, dass Henrikes Haare um ihren Kopf wirbelten. Sie fing sie mit einer Hand ein und hielt sie zusammen. »Ben hat ständig irgendwelchen Leuten bei ihren Computerproblemen geholfen«, erklärte ich ihr gegen den Straßenlärm und das Rauschen des Fahrtwindes. »Er wird dem Jungen die Festplatte vor
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