Das verstummen der Kraehe
seinem Verschwinden zurückgegeben haben, sonst hätte sie längst jemand entdeckt. Mehr wird nicht dahinterstecken.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher. Durch brisante Fotos könnte sich dein Bruder durchaus in Gefahr gebracht haben.«
Nicht nur durch brisante Fotos, schoss es mir durch den Kopf. Die Gedanken, die ich seit Martins Besuch und dieser Hackergeschichte so weit wie möglich in den Hintergrund geschoben hatte, ließen sich nicht länger verdrängen. Sie rollten wie eine gewaltige Welle auf mich zu.
»Was ist los?«, fragte Henrike und passte ihre Lautstärke dem Lärmpegel an.
»Nichts«, wehrte ich ab.
»Dann erzähl mir von diesem Nichts.« Die Ampel vor uns schaltete auf Rot. Henrike drehte sich zu mir.
»Vielleicht war Ben damals in etwas verwickelt worden, das zu groß für ihn war.« Ich blickte aus dem geöffneten Seitenfenster auf die Fahrbahn.
»Kann gut sein«, antwortete sie spontan. »Das ist nichts Außergewöhnliches. Menschen lassen sich tagtäglich in etwas verwickeln, das sie nicht überschauen. Schau dir nur das Kreditgewerbe an, das würde ohne solche Menschen pleitegehen.«
»Ben war sehr intelligent.«
»Das bedeutet nicht, dass er auch klug war. Aber wie kommst du überhaupt darauf, dass ihm etwas über den Kopf gewachsen sein könnte?«
»Einfach nur so.«
»Raus damit!«
»Na ja«, sagte ich zögernd, »er konnte wirklich sehr gut programmieren. Zumindest hat er das immer behauptet.« Ich legte eine Hand auf meine Brust und atmete bewusst ein und aus.
Hinter uns hupte jemand. Die Ampel war längst auf Grün gesprungen.
»Wieso schließt du von einer Festplatte mit Fotos aufs Programmieren?«, fragte Henrike und gab Gas. »Das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt etwas zu tun.«
»Ich kann dir das nicht erklären.«
»Vielleicht solltest du es versuchen, sonst kann ich dir nicht helfen.«
Ich schüttelte den Kopf und schloss das Fenster, damit es wieder leiser wurde. »Würde ich gerne, aber ich habe versprochen, mit niemandem darüber zu reden.«
Für eine Weile verstummten wir. Henrike setzte als Erste wieder zu sprechen an. »Manchmal ist es blödsinnig, sich an ein Versprechen zu halten, Kris. Mach den Mund auf, bevor es auch für dich gefährlich wird.«
»Das werde ich.«
»Versprich es!«
Ich hob zwei Finger zum Schwur.
»Gut, und jetzt ruf diesen Nils an. Wenn wir schon unterwegs sind, statten wir ihm auch gleich noch einen Besuch ab. Dann verdienen wir uns das Eis wenigstens.«
Alle Fenster des in der Amalienstraße gelegenen Wallner’s waren weit geöffnet. Vor der Kneipe standen vier kleine Tische mit jeweils zwei Stühlen, die allesamt besetzt waren. Wir gingen hinein. Die Gestaltung des Innenraums war immer noch dieselbe wie vor Jahren. An die hellblauen Wände waren in unterschiedlichen Farben Zitate aus der Weltliteratur geschrieben worden. Die Tische und Stühle – ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Materialien und Stile – waren zu zwei Dritteln besetzt. Die Gäste schienen vorwiegend Studenten zu sein. Zwei Kellnerinnen schwirrten herum. Falls Ines ihr Konzept nicht geändert hatte, waren auch sie Studentinnen, die hier jobbten, wie Ben es einmal getan hatte.
Ines Wallner stand hinter ihrem Tresen und mixte Aperol-Sprizz. Fast hätte ich sie nicht erkannt. Als ich sie vor fünfeinhalb Jahren das letzte Mal gesehen hatte, waren ihre Haare lang, rot und lockig gewesen. Jetzt waren sie von einem dunklen Braun und zu einem Bubikopf geschnitten, der viel besser zu ihrer Gesichtsform passte. Ihr Make-up war längst nicht mehr so grell und ihre Kleidung weniger schrill als damals. Zumindest ihr Äußeres schien sie neu erfunden zu haben.
»Hallo, Ines.«
Sie sah auf, erkannte mich und lächelte. »Servus, Kristina.« Ihr Blick richtete sich auf Henrike, die neben mir stand. »Und wer ist das?«
»Meine Freundin Henrike.«
»Mögt ihr etwas trinken?«
»Nein, danke. Ich wollte dich nur schnell fragen, wer dieser Robin ist.«
» Diese «, sagte sie und mixte die nächste Bestellung. »Robin ist eine Frau.«
Eine Frau? »Sie hat Ben damals etwas auf eine Karte geschrieben.«
»Was?«
Ich zog die Karte aus meiner Hosentasche und reichte sie ihr.
Ines warf einen Blick darauf und gab sie mir dann wortlos zurück.
»Weißt du, wo ich sie finden kann?«
»Auf Ibiza.«
München wäre auch zu einfach gewesen. Obwohl Ines nicht den Eindruck vermittelte, als ob sie große Lust hätte, weiter über Robin zu sprechen, löcherte ich
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