Das vertauschte Gesicht
stimmt?«, sagte Ringmar.
»Dass der Junge die Musik als Erster gehört hat? Ich glaube , ja.«
»Manche wollen sich eben wichtig machen. Der Alte hat vielleicht mit einer Belohnung gerechnet.«
»Ich frage mich, ob er uns noch mehr vorenthalten hat.«
»Guter Gedanke.«
»Wir müssen ihn noch mal verhören«, sagte Winter. »Der Junge wirkt aufgeweckt«, sagte Ringmar. »Der weiß etwas, was uns weiterhelfen kann.« »Glaubst du?«
»Ich bin sicher. Wenn es in seinem Gehirn auftaucht, wird es uns helfen.« Winter zündete sich einen Zigarillo an und blinzelte durch den Rauch. Er nahm noch einen Zug, blies den Rauch aus und blinzelte wieder. »Ich hab an die Schrift an der Wand gedacht. Du kennst vielleicht den Ausdruck >Die Schrift an der Wand<... the writing on the wall.«
»I know.«
»Und das bedeutet wohl ungefähr, dass man das Offensichtliche nicht übersehen kann. Es ist für den da, der verstehen will. Die Schrift an der Wand. Ist es eine Art doppelte Botschaft, die wir da bekommen haben? Oder eher ein Subtext. Will die Schrift uns sagen, dass wir die Antwort vielleicht... direkt vor der Nase haben? Einen Teil der Antwort. Ich weiß nicht. Aber vielleicht bedeutet das Wort >Wall< nichts weiter, sagt uns nur, dass die Schrift an der Wand steht. Das Wort an sich ist nicht das Wesentliche, es ist vielleicht... mehr wie ein Pfeil, der in eine andere Richtung zeigt. Kannst du mir folgen , Bertil?«
»Ich weiß nicht. Red weiter.«
»Also brauchen wir nicht weiter über die Mitteilung an sich nachzugrübeln, sondern mehr über die Tatsache, dass sie an die Wand geschrieben wurde. Dass sie da ist.«
»Die Lösung ist näher, als wir glauben?«
»Ja. In unserer Nähe befindet sich etwas, das wir nicht sehen können.«
Ringmar strich sich über Augen und Stirn. Er sah die Wand in der Wohnung vor sich, roter Text auf weißem Grund. Wie eine Überschrift.
»Ich hab es mir auch schon als eine Art Überschrift gedacht«, sagte er und nahm die Hand vom Gesicht. »Überschrift im Sinn von Ankündigung von etwas, das passieren wird. Das Wichtigste ist, was passieren wird.«
»Mhm.«
»Weißt du, dass das schwedische Wort für Überschrift, Rubrik, lateinischen Ursprungs ist? Es kommt von >Rubrica<, und das heißt >rote Farbe<.«
»Nein. Stimmt das?«
»Das hat Jonas mir am Wochenende erzählt. Er hat mich gefragt, ob ich wüsste, was >Rubrik< eigentlich bedeutet, und dann hat er es mir erklärt.«
»Studiert er Publizistik?«
»Das erste Semester an der Fachhochschule für Publizistik«, sagte Ringmar, und seine Stimme klang stolz.
»Der Apfel fällt wahrhaftig nicht weit vom Stamm«, sagte Winter. »Gibt's da noch was über den Ursprung des Wortes?«
»Rubrica, also. Im Römischen Reich wurden die Beschlüsse des Senats durch Gipstafeln verkündet, die an öffentlichen Plätzen aufgehängt wurden«, dozierte Ringmar, als ob er am Katheder stände. »Die Tafeln hießen Acta Senatus und hatten rote Überschriften.«
»Hast du überlegt, ob da ein Zusammenhang besteht?«
Ringmar breitete die Arme aus. »War nur so ein Gedanke.«
»Der Mörder soll sic h mit den Besonderheiten von lateinischen Überschriften auskennen? Sollen wir an der Fachhochschule für Publizistik suchen? Oder ist es ein Journalist? Ich hab nichts dagegen.«
»Es war wirklich nur ein Gedanke.«
»Interessant«, sagte Winter. Er nahm einen weiteren Zug von seinem Zigarillo, studierte wieder den Rauch. Vielleicht war es eines der letzten Male. Es gab wahrhaftig Grund zum Aufhören, vor dem ersten April. Die guten, aber starken Gerüche mussten ausgelüftet werden, aus der Wohnung und der Kleidung. »Aber hiermit kommen wir nicht weiter. Noch nicht. Vielleicht bedeutet es auch überhaupt nichts.«
»Wie meinst du das?«
»Vielleicht hat er nur irgendwas hingeschrieben. Vielleicht die Eingebung eines Augenblicks. Vielleicht nur, um uns in die Irre zu führen.«
»Bewusste Desinformation? Ja, das wäre das Schlimmste. Dann gibt es gar nichts mehr, wo wir suchen können.« »Nein.«
»Das wäre wirklich das übelste Szenario«, sagte Ringmar. »Es könnte bedeuten, dass es überhaupt keine Botschaft, kein Hilferuf ist, sondern dass wir es mit jemandem zu tun haben, der seine Tat genießt.«
»Ja. Wenn die Botschaft kein Hilferuf ist, sind wir verloren.«
»Wir werden mit dem hier kaum allein fertig«, sagte Ringmar, sah Winter jedoch nicht an.
»Du hast Recht. Hier handelt es sich nicht um einen Serienmörder. Vielleicht ist es
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