Das verwundete Land - Covenant 04
Ring. Plötzlich schien die gesamte Schlucht in Flammen zu stehen. Linden sprang in der Erwartung auf, Dutzende wütender Steinhausener heranstürmen zu sehen. Aber als sich ihre Augen den veränderten Lichtverhältnissen anpaßten, erkannte sie, daß die Lichtquelle des Widerscheins in einiger Entfernung lag. Das Dorf mußte ein gewaltiges Feuer angezündet haben. Flammen erhellten zwischen ihr und dem Licht die Umrisse von Häusern; die kristallenen Facetten der Schlucht warfen den Feuerschein in alle Richtungen zurück. Doch sie konnte nichts hören, das angezeigt hätte, sie würden in Gefahr schweben.
Sunder berührte ihre Schulter. »Komm«, flüsterte er. »Das Steinhausen hält zu irgendeinem bedeutsamen Zweck eine Versammlung ab. Alle Einwohner nehmen daran teil. Vielleicht ist das die günstigste Gelegenheit, um uns Nahrung zu besorgen.«
Linden zögerte, beugte sich über Covenant, um ihn zu untersuchen. Ihr Zögern beruhte auf vielfältigen Befürchtungen. »Sollen wir ihn wirklich allein lassen?« Covenants Haut fühlte sich vom Fieber spröde an.
»Wohin sollte er gehen?« entgegnete der Steinmeister bloß. Linden senkte den Kopf. Wahrscheinlich würde Sunder ihre Unterstützung brauchen. Und Covenant wirkte viel zu krank, um sich regen, sich irgendwie Schaden zufügen zu können. Aber er sah so hinfällig aus ... Doch sie hatte keine Wahl. Sie straffte sich und gab Sunder einen Wink, daß er vorausgehen möge.
Ohne Umschweife klomm Sunder über die Böschung. Linden folgte ihm so leise wie möglich. Im Helligkeitsschein des Tals fühlte sie sich entblößt; aber niemand schlug Alarm. Und das Licht erlaubte es ihnen, sich dem Steinhausen ohne Mühe zu nähern. Bald befanden sie sich zwischen den Häusern.
An jeder Ecke blieb Sunder stehen, um sich dessen zu vergewissern, daß der Weg frei war; aber sie begegneten niemandem. Anscheinend waren sämtliche Gebäude menschenleer. Der Steinmeister suchte eine Behausung aus. Mit einem Zeichen beauftragte er Linden damit, am Eingang aufzupassen, dann schlüpfte er hinter den Türvorhang. Der Klang von Stimmen drang an Lindens Ohren. Einen Augenblick lang stand sie erstarrt da, einen Warnruf auf der Zunge. Doch da hörte sie genauer, stellte fest, woher die Stimmen sie erreichten. Sie kamen aus dem Zentrum des Steinhausens. Erleichtert bewahrte sie Fassung und wartete. Gleich darauf kehrte Sunder aus dem Bau zurück. Unterm Arm hatte er einen prallen Beutel. Er flüsterte Linden ins Ohr, er habe sowohl Nahrung wie auch Mirk gefunden. Daraufhin machte er Anstalten, sich in die Richtung zum Fluß zu entfernen. Aber Linden hielt ihn auf, deutete zur Mitte der Ortschaft. Für einen Moment erwog Sunder die Vorteilhaftigkeit dessen, zu wissen, was in diesem Ort vorging. Dann erklärte er sich einverstanden.
Gemeinsam schlichen die beiden weiter, bis zwischen ihnen und dem Dorfplatz nur noch ein Haus stand. Nun konnte man die Stimmen unterscheiden; sie konnten Wut und Unsicherheit heraushören. Als Sunder zum Dach hinauf zeigte, nickte Linden sofort. Sunder setzte den Beutel ab und hob sie zur flachen Dachkante empor. Vorsichtig kletterte Linden auf das Dach. Sunder reichte ihr den Beutel. Sie nahm ihn und streckte eine Hand hinunter, um Sunder heraufzuhelfen. Die Anstrengung entlockte seiner wunden Brust ein Aufstöhnen; doch der Laut war zu leise, um durch den Klang der Stimmen hörbar zu sein. Seite an Seite wagten die zwei sich vorwärts, bis sie dazu imstande waren, zu sehen und zu hören, was im Zentrum des Steinhausens geschah.
Die Einwohner hatten einen Kreis um die freie Mitte des Dorfplatzes gebildet. Ihre Zahl übertraf die Einwohnerschaft von Steinhausen Mithil erheblich. Auf irgendeine, nicht ganz erfaßbare Weise machten sie einen wohlhabenden, besser genährten Eindruck als die Bewohner von Sunders Heimatort. Aber ihre Mienen spiegelten Grimm, Besorgnis und Furcht wider. Sie beobachteten das Geschehen in ihrer Mitte mit angespannter Aufmerksamkeit. Bei dem Feuer standen drei Gestalten – zwei Männer und eine Frau. Die Frau zwischen den zwei Männern zeichnete sich durch eine Haltung des Flehens aus, als richte sie an beide irgendeine Bitte. Wie die anderen Steinhausenerinnen trug sie ein robustes ledernes Kleid. Ihre bleichen, feingeschnittenen Gesichtszüge bezeugten Eindringlichkeit, und die Aufgelöstheit ihres rabenschwarzen Haars verlieh ihr einen Anschein von Verhängnisfülle. Der Mann auf der Linden und Sunder zugewandten Seite war
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