Das verwundete Land - Covenant 04
Matten eine reiche Vielfalt an Blumen: Gänseblümchen, Akeleien und anmutige Forsythien in Hülle und Fülle. Und über allem lag eine Atmosphäre unverfälschter, von unverdorbenem Leben durchdrungener Lieblichkeit, als gäbe es nur hier und sonst nirgendwo ihrem eigentlichen Wesen treu gebliebene Schönheit, das pure Geschenk der Natur, das die Seele besänftigte und stärkte.
Indem er im Dahinziehen Aliantha mampfte, langgestreckte Abhänge hinuntersprang, gelegentlich in wilde Sätze des Vergnügens verfiel, drang Thomas Covenant zügig ins Innere Andelains vor.
Mit der Zeit beruhigte er sich inwendig, paßte sich mehr der makellosen Friedlichkeit der Hügellandschaft an. In den Ästen sangen Vögel; zwischen den Bäumen huschten kleine Waldtiere umher. Covenant unterließ alles, was sie hätte aufscheuchen können. Und nachdem er eine gewisse Strecke zurückgelegt hatte, widmete er seine Gedanken wieder den Gefährten, dachte an Hollian und Sunder. Inzwischen war er fest davon überzeugt, daß in diesen Hügeln nichts Unheilvolles versteckt lag, daß sie keine verborgenen, verhängnisvollen Übel beherbergten. Allein die bloße Vorstellung erachtete er jetzt als absurd. Doch zur gleichen Zeit vertiefte die Lebhaftigkeit dessen, was er empfand, was er liebte, sein Verständnis für die Steinhausener. Sie waren wie Leprotiker; alle Bewohner des Landes waren Leprotikern ähnlich geworden. Opfer des Sonnenübels waren sie, Opfer eines Übels, gegen das es keine Heilung, vor dem es kein Entkommen gab. Von allem Schönen der Welt ausgeschlossen, glichen sie Ausgestoßenen. Unter solchen Bedingungen wurden dem Willen zum Überleben harte Prüfungen auferlegt. Nichts unter der Sonne war so gefährlich für einen Lepraleidenden wie seine eigene Sehnsucht nach der Art von Leben, nach der Freundschaft und Hoffnung, die seine Krankheit ihm verunmöglichte. Eine solche Schwäche mündete in Verzweiflung und Selbstverachtung, zu der Überzeugung, es sei gerechtfertigt, Leprotiker auszustoßen, ihre Ächtung sei eine angemessene Strafe für eine Heimsuchung, die sie wohl verdient haben mußten. Auf diese Weise betrachtet, war Andelain eine leibhaftige Rechtfertigung des Sonnenübels. Das Land war anders als Andelain, weil die Bewohner des Landes Bestrafung verdient hatten, nicht Schönheit. Was anderes konnten sie glauben, um dazu imstande zu sein, die Strafe ihres Daseins zu ertragen? Wie so viele Leprotiker sahen sie sich gezwungen, die eigene Erniedrigung zu billigen. Deshalb mißtraute Sunder allem, was nicht der Herrschaft des Sonnenübels unterlag. Und Hollian glaubte, Andelain würde ihr Untergang sein. Die beiden besaßen gar keine andere Wahl. Absolut nicht. Bis sie zu glauben gelernt hatten, daß die Wahrheit ihres Lebens nicht aus dem Sonnenübel bestand. Bis Covenant eine Antwort gefunden hatte, die ihnen ihre Freiheit zurückgab.
Er hegte die Bereitschaft, alles was er hatte, was er war, dafür einzusetzen, daß sich ein Weg auftat, auf dem Sunder, Hollian und Linden Andelain ohne Furcht betreten konnten.
Den ganzen Tag hindurch wanderte er weiter, ohne zu rasten. Er brauchte keine Rast. Die Aliantha heilten die Nachwirkungen des Gifts, und das Wasser in den klaren Bächen vermittelte ihm das Gefühl, neugeboren zu sein; und jeder neue Ausblick, der sich ihm in dieser Umgebung bot, war eine gewisse Art von Nahrung für sich, kräftigte sein Leben, bekam ihm gut wie eine Köstlichkeit. Die Sonne sank voller Pracht, lange bevor er den Wunsch zum Haltmachen verspürte. Er konnte einfach nicht verharren. Er strebte vorwärts, immer nach Nordosten, bis die Düsternis der abendlichen Dämmerung sich zur Nacht vertiefte und die Sterne, als ob sie lächelten, aus ihrer himmlischen Weite hervortraten, um ihm Gesellschaft zu leisten.
Doch es war noch nicht lange dunkel, als der Anblick eines schwachen, gelb-orangenen Lichts ihn zum Stehenbleiben veranlaßte, das zwischen den Bäumen flackerte wie eine Klinge aus Feuer. Covenant mochte sich ihm nicht nähern; bestimmte Erinnerungen mahnten ihn zur Zurückhaltung. Still und ehrfürchtig stand er da, während die Flamme näher kam. Und indem sie sich ihm nahte, ertönte ein leises, klares Läuten, ein Klingen wie von feinem Kristall.
Schließlich tanzte sie vor ihm in der Luft, und er verbeugte sich tief vor ihr, denn sie war einer der Geister Andelains – eine Flamme, so groß wie seine Hand, und sie lohte so aufrecht, als wäre die Dunkelheit ein unsichtbarer Docht.
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