Das verwundete Land - Covenant 04
Trotz Aliantha und klaren Quellwassers, weichen Grasbodens und einer Luft von der Vitalität eines Elixiers untergruben die Strapazen seine körperliche Verfassung wie Leprose. Er hatte seine Grenzen überschritten und setzte den Marsch nur noch mit ausgeliehenem Durchhaltevermögen fort, einer Ausdauer, die er mit bloßer Verstocktheit verhängnisvollem Mißbrauch der verfügbaren Zeit entrang. Zu guter Letzt gelangte er zu dem Glauben, dem Ende nahe zu sein, und wähnte es auf der Kuppe jeder Anhöhe lauern, am Fuß jedes Abhangs. Aber dann begehrte ihm das Herz im Leibe auf, weil er Thomas Covenant der Zweifler war, über alle Ausreden hinaus für das Ergebnis seines Daseins verantwortlich, und er riß sich zusammen, lief weiter.
Indem er wankte, bei jedem dritten Schritt strauchelte, torkelte er nach Nordwesten, immerzu nordwestwärts, ohne sich darum zu scheren, was es ihn kosten mochte, hielt sich in den Randgebieten Andelains. Nur ein Zugeständnis machte er seiner mühseligen Atmung, den überanspruchten Muskeln: er aß Schatzbeeren von jedem Aliantha , an dem er vorbeikam, und die Steine warf er hinaus in die umliegende Ödnis. Den gesamten Tag lang blieb er unterwegs, obwohl er gegen Mitte des Nachmittags gerade noch das Tempo eines Spaziergangs schaffte; und während des ganzen Tages folgte Hohl ihm, paßte sich in seiner Unerschütterlichkeit Schritt für Schritt der Ermattung an, die Covenant dem Zusammenklappen entgegenbrachte.
Kurz nach dem Dunkelwerden war es soweit. Er trat fehl, sackte nieder und vermochte nicht wieder aufzustehen. Seine Lungen lechzten zittrig nach Luft, doch er spürte sie nicht einmal. Alles in seinem Brustkorb schien vollkommen abgestorben zu sein, als stünde er bereits außerhalb jeder Hilfe. Wie gelähmt lag er da, bis sein Pulsschlag sich zu einem schwächlichen Gepoche verlangsamte und seine Lungen zu wogen aufhörten. Dann schlief er ein.
Gegen Mitternacht weckte ihn die Berührung einer kalten Hand an seiner Seele. Ein Schaudern durchrieselte ihn, das mehr Kummer glich als Furcht. Sein Kopf ruckte hoch. Vor ihm standen drei silberne Gestalten, als wären sie aus destilliertem Mondlicht. Sobald er sich die Verschwommenheit des Schlafs aus den Augen gezwinkert hatte, erkannte er sie.
Lena, die Frau, die er vergewaltigt hatte. Atiaran und Trell, ihre Eltern.
Trell, eine hünenhafte, derbe, wuchtige Erscheinung, war durch das Verbrechen, das Covenant an Lena begangen, und das Unheil, das Atiaran mit ihren Bemühungen, das Land zu retten, indem sie den Schänder ihrer Tochter beschützte, über sich gebracht hatte, zutiefst verletzt worden. Der größte Gram seines Lebens jedoch, der Schmerz, der zuletzt seinen Verstand aus den Angeln gehoben hatte, war die Liebe gewesen, die Elena, Lenas Tochter, für Covenant empfand.
Atiaran hatte all ihre Gefühle, all ihr schwer errungenes Gespür für Gerechtigkeit für Covenant geopfert; sie hatte von Anfang an daran geglaubt, daß er unentbehrlich war für die Rettung des Landes. Doch die Folgen dieser Selbstüberwindung hatten sie zum Schluß das Leben gekostet.
Und Lena ... Ach, Lena! Beinahe fünfzig Jahre lang hatte sie ernsthaft in dem aberwitzigen Wahn gelebt, Covenant werde eines Tages zurückkehren und sie heiraten. Und als er dann tatsächlich zurückkam – als sie erfuhr, daß er die Verantwortung für den Tod Elenas trug, der Urheber des ungeheuerlichen Martyriums war, das die Ranyhyn, die sie so bewunderte, erleiden mußten –, war sie dennoch dazu fähig gewesen, ihr Leben zu opfern und Covenants zu bewahren. Nun erschien sie ihm nicht in der Lieblichkeit der Jugend, sondern in der morschen Gebrechlichkeit des Alters; und sein verschlissenes Herz rief nach ihr. Er hatte jeden Preis entrichtet, der ihm in seinen außergewöhnlichen Anstrengungen zur Wiedergutmachung seiner Missetaten möglich gewesen war; doch nie hatte er die Bürde der Reue zu tragen erlernt.
Trell, Atiaran und Lena. In jedem ihrer Gesichter ersah er einen Vorwurf, so stark, wie ihn menschliches Leid nur erheben konnte. Doch als Lena sprach, klagte sie ihn nicht an. »Thomas Covenant, du hast dich weit über die Belastbarkeit deines Leibes hinaus geschunden. Solltest du noch länger schlafen, mag's wohl sein, daß Andelain dich vor dem Tod errettet, doch wirst du erst erwachen, wenn ein voller Tag verloren ist. Vielleicht ist's so, daß dein Wille unbeugsam ist. Dennoch ist es keineswegs klug von dir, dich auf diese Weise zu strafen. Erhebe
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