Das verwundete Land - Covenant 04
Klippe. Im Osten schob sich die Sonne in fahlem Rot über den Horizont, als habe sie gerade Blut zu verströmen begonnen. Licht fiel auf die Höhe der Steilwand, ließ jedoch das gesamte Unterland im Dunkeln, als wäre sie ein ausgedehntes Gebiet, dessen Erdreich die Nacht langsam aufsauge. Aber wenngleich Covenant die Senke nicht erkennen konnte, schaute er doch mit aller Deutlichkeit die Sonne. Ihre Aura war schwächer. Schwächer noch als am vorherigen Morgen. Linden betrachtete sie einen Moment lang eindringlichen Blicks, dann fuhr sie herum und ließ ihn nach rechts und links über die Länge des Landbruchs schweifen. Covenant hörte Insekten summen, als hätten sie sich soeben aus dem leblosen Untergrund erhoben. »Mein Gott!« Linden war aufgeregt. »Ich habe recht gehabt.« Covenant blieb ruhig, wagte kaum auszuatmen. »Hier ist die Grenzlinie.« Linden sprach durch die Erregung plötzlichen Begreifens in abgehackten Sätzen. »Der Landbruch. Er ist wie eine Schranke.« Ihre Hände deuteten anscheinend irgendwelche Konsequenzen in der Luft an. »Ihr werdet's sehen. Wenn die Sonne die Klippe überquert ... heute mittag ... dann wird das Sonnenübel wieder so stark wie vorher sein.«
Schwerfällig schluckte Covenant. »Wieso?«
»Weil die Atmosphäre anders ist. Das Ganze hat überhaupt nichts mit der Sonne zu tun. Diese Korona ist bloß ein visueller Eindruck. Wir sehen sie, weil wir die Sonne durch die Atmosphäre anschauen. In Wirklichkeit ist das Sonnenübel in der Luft. Die Sonne verändert sich gar nicht. Aber die Luft ...« Covenant unterbrach sie nicht; aber im Hintergrund seines Bewußtseins erwog er, was sie äußerte. Irgendwie kam es ihm einleuchtend vor; eine Macht, die ausreichte, um die Sonne zu beeinflussen, war eigentlich undenkbar. »Das Sonnenübel ist wie ein Filter. Eine Methode, um die normalen Strahlen der Sonne negativ zu verändern. Ihnen eine schädliche Wirkung zu verleihen.« Sie richtete ihre Worte an ihn, als versuche sie, ihm trotz seiner Blindheit etwas einsichtig zu machen. »Die Wirkung besteht nur westlich von hier. Im Oberland. Was man dort unten sieht« – sie nickte ostwärts – »ist bloß so was wie ein Überlappen. Deshalb wirkt die Korona von hier aus so schwach. Hier sind wir außerhalb der Reichweite der Sonnengefolgschaft. Und es kann durchaus sein, daß die Sarangrave-Senke noch so ist, wie du sie in Erinnerung hast.«
Nur westlich ...? dachte Covenant. Aber wie war das möglich? Es gibt Wind ... Stürme ... Linden bemerkte die unausgesprochene Frage in seiner Miene. »Es ist in der Luft«, beharrte Linden. »Aber es ist wie eine Strahlung. Sie muß vom Erdboden ausgehen. Irgendwo muß sie mit der Erdkraft zusammenhängen, von der du dauernd redest. Das Sonnenübel ist in Wahrheit eine Entartung der Erdkraft.«
Eine Entartung der Erdkraft! Sobald er das vernahm, schien sich um Covenants Kopf alles zu drehen, als all seine vagen Ahnungen sich unversehens verdichteten. Sie hatte recht. Vollständig recht. Er hätte selbst darauf kommen müssen. Der Stab des Gesetzes war vernichtet ... Und Lord Foul hatte sich im Donnerberg niedergelassen, der am Rande des Landbruchs emporragte, westlich des Unterlands. Natürlich konzentrierte der Verächter das Sonnenübel auf das Oberland. Den Großteil des Ostens hatte er ohnehin in der Gewalt. Alles war völlig klar. Nur einem Blinden konnten solche Dinge entgehen. Für einen langen Moment beschäftigten ihn Einzelheiten der neuen Erkenntnis. Lord Foul hatte die Erdkraft selbst gegen das Land gewendet. Die Reichweite des Sonnenübels war begrenzt. Aber wenn es einmal stark genug, die Wirkung einmal tief genug sein sollte ... Doch da kam ihm erstmals etwas anderes, das Linden gesagt hatte, richtig zu Bewußtsein. Und es kann sein, daß die Sarangrave-Senke ... Er zwang sich zum Nähertreten, nötigte seine widerwilligen Gliedmaßen dicht an den Landbruch, um in die Tiefe blicken zu können. Hölle und Verdammnis!
Der vom Horizont geworfene Schatten hatte sich mittlerweile bis in die untere Hälfte der Steilwand abgesenkt. Auf den Gewässern der Sarangrave-Senke begann sich schwaches, rosarotes Licht widerzuspiegeln. Bläßliche Juwelen, rosig und zart, schienen sich aus dem Grunde des ausgedehnten Schattenlandes auszubreiten, schimmerten und glitzerten, bildeten ein Netzwerk von Linien, als schäle sich aus dem Dunkel eine riesenhafte Einlegearbeit, eine Karte der im Weichen begriffenen Nacht. Oder ein Fangnetz. Während die
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