Das verwundete Land - Covenant 04
Hände ein.
Nach und nach löste sich Covenants Aufmerksamkeit von ihr. Die Sonne begann in den Nachmittag herabzusinken; ein heller, heißer Streifen Licht, zerteilt vom Schatten des Gitters vor dem Fenster, erstreckte sich über den Fußboden. Covenant lehnte den Kopf reglos an die Wand und gab sich Gedanken über den Orkrest -Stein hin. Orkrest war ein Stein der Macht. Die früheren Meister des Steinwissens hatten Orkrest verwendet, um auf verschiedenerlei Weise die Erdkraft nutzbar zu machen – Licht zu erzeugen, Trockenheit zu überwinden, Wahrheitsproben durchzuführen. Wenn es sich bei Sunders Sonnenstein tatsächlich um Orkrest handelte ... Aber was, wenn es sich nicht so verhielt? Erneut beschlich ihn die Beunruhigung, die er schon in Nassics Hütte so stark empfunden hatte. Die Welt ist nicht wie einst. Wenn es keine Erdkraft mehr gab ... Etwas zerbrochen zurück. Covenant konnte nicht ableugnen, daß er sich zutiefst sorgte. Er mußte Orkrest haben, brauchte seine Macht; er benötigte einen Auslöser, weil er nie dazu imstande gewesen war, die wilde Magie ausschließlich durch Willenskraft freizusetzen. Sogar in den kritischen Stunden seines schlußendlichen Zusammenpralls mit dem Verächter wäre er ohne die katalysatorische Wirkung des Weltübel-Steins eindeutig verloren gewesen. Falls der Sonnenstein doch kein Orkrest war ... Covenant wünschte, er könnte seinen Ring spüren; doch auch ohne die Fesseln wären seine Finger zu gefühllos gewesen. Lepraleidender , sagte er sich, du mußt es schaffen. Du mußt. Der Sonnenschein geriet für ihn zu einem weißen Anziehungspunkt, schwoll an, bis er pulste wie der Schmerz in seinem Kopf. Allmählich füllte sich sein Bewußtsein mit einer Helligkeit, die furchtbarer und eine größere Strafe war als jede Nacht. Er widerstrebte ihr, als sei er ein Fragment der letzten gütigen Dunkelheit, die heilte und erneuerte.
»Covenant«, hörte er dann auf einmal Linden sagen. »Sie haben genug geschlafen. So was ist gefährlich, wenn man eine Gehirnerschütterung hat. Covenant.« Die Lichtfülle in Covenants Hirn blendete ihn noch einen Moment lang; er mußte blinzeln, um erkennen zu können, daß in der Räumlichkeit trübes Licht herrschte. Inzwischen verfärbte der Sonnenuntergang schwach die Luft. Der Himmel vor dem Fenster lag im Zwielicht. Covenant war steif und fühlte sich wie betäubt, als wäre in ihm das Leben geronnen, während er schlief. Die Schmerzen hatten sich in seinen Knochen festgesetzt; aber auch sie wirkten dumpf, als sei er durch Müdigkeit dagegen abgestumpft. Auf Lindens Drängen trank Covenant das restliche Wasser. Es löste ihm die Kehle, klärte jedoch nicht seinen Kopf. Für lange Zeit saßen sie beide da, ohne zu sprechen. Nacht überschwemmte das Tal wie eine Ausschwitzung der Berge; indem die Erde ihre Wärme an den klaren Himmel abgab, erfüllte Kühle die Luft. Anfangs blinkten die Sterne so lebhaft, als bedienten sie sich damit einer eigenen Sprache – einer Artikulation ihrer selbst über Ferne und unergründliche Nacht hinweg. Doch sobald der Mond aufging, verlor der nächtliche Himmel seinen Eindruck von Tiefe. »Covenant«, sagte Linden schließlich kaum hörbar, »reden Sie mit mir.« Ihre Stimme klang so zerbrechlich wie dünnes Eis. Sie stand dicht an der Grenze ihres Duldungsvermögens. Covenant überlegte, was ihnen beiden eine Hilfe sein, Linden innerlich festigen und ihm einen Fokus für sein Denken bieten könne. »So will ich nicht sterben«, murrte Linden. »Ohne überhaupt zu wissen, warum.«
Es zermürbte Covenant, daß er nicht dazu in der Lage war, ihr das Warum zu erklären, ihr in all dem, was sich abspielte, das Gefühl einer Zweckmäßigkeit und Zielgerichtetheit zu vermitteln. Doch er kannte eine Geschichte, die ihr möglicherweise einen Begriff davon verschaffen konnte, um welchen Einsatz es sich drehte. Vielleicht war es eine Geschichte, die zu hören sie jetzt beide gut vertragen konnten. »Na schön«, sagte er ruhig. »Ich werde Ihnen erzählen, wie diese Welt erschaffen worden ist.« Linden schwieg. Einen Moment später begann Covenant. Sogar für ihn selbst klang seine Stimme körperlos, als ob die Dunkelheit für ihn spräche. Weil er Linden nicht sah, nicht einmal eine genauere Vorstellung davon hatte, wo sie saß, suchte er sie mit Worten zu erreichen. Seine Geschichte war schlicht; doch für ihn beruhte ihre Einfachheit auf ihrer langen Destillation, die sie auf das Wesentliche gebracht hatte. Sie
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