Das verwunschene Haus
dramatischer Kampf um Leben und Tod statt. Als die Rettungsleute zusammen mit der Polizei am Tatort eingetroffen waren, sahen sie sofort, daß Erika Schneider noch nicht tot war. Ihr Mann hatte versucht, sie zu erwürgen, und ihr Hals war mit Blutergüssen übersät, aber sie atmete noch. Man hatte daher unverzüglich mit künstlicher Beatmung begonnen, und nach zehn Minuten intensiven Bemühens ist es geschafft: Erika kann wieder richtig atmen. Sie ist gerettet!
Anschließend bringt man sie ins Krankenhaus, während ihr Mann in Handschellen aufs Kommissariat geführt wird. Die kleine Gretel wird kurz darauf von ihren Großeltern mütterlicherseits mit dem Wagen abgeholt.
Zu dem Drama, das sich abgespielt hat, sagen sie nur den einen Satz: »Mama ist am Leben.« Und unterwegs im Auto wiederholt das Kind im stillen immer dieselben Worte: >Ich habe Mama gerettet...<
Ein Monat ist vergangen. Nach längerem Klinikaufenthalt kehrt Erika Schneider zu ihren Eltern zurück. Großpapa und Großmama haben Gretel darauf vorbereitet und zu ihr gesagt: »Du weißt, Mama ist krank. Sie ist nicht mehr wie früher. Du mußt also besonders lieb zu ihr sein...«
Ja, Mama ist sogar sehr krank. Gretel wird das sofort klar, als sie die Mutter im Rollstuhl auf sich zukommen sieht. Sie stürzt auf sie zu, doch sie erlebt eine weitere Überraschung: Ihre Mutter hat den Kopf zur Seite gedreht, sie blickt nicht in Gretels Richtung, und sie lächelt sie nicht an. Erst als sie ganz nah ist, bemerkt Erika die Gegenwart des Kindes. »Mein Kleines, du mußt begreifen...«, sagt die Mutter sanft. »Ich bin gelähmt, kann weder Arme noch Beine bewegen.« Erika Schneider läßt einen Moment verstreichen und fügt mit veränderter Stimme hinzu: »Und außerdem kann ich dich auch nicht sehen. Ich bin blind...«
Sie zwingt sich zu einem Lächeln und fährt fort: »Aber das macht nichts. Dir verdanke ich, daß ich noch lebe. Du hast mich gerettet.«
Das Leben bei den Großeltern geht weiter, und der Alltag kehrt wieder ein. Jedesmal, wenn Gretel aus der Schule kommt, verbringt sie lange Zeit mit ihrer Mutter. Die Kleine ist nicht wenig stolz darauf, Mama gerettet zu haben. Doch das genügt nicht, sie möchte noch mehr tun und ihr auch die Freude am Dasein wiedergeben.
In den Momenten, wo sie zusammen sind, spürt Gretel, daß die Mutter sich wohl fühlt. Sie ist ruhig und hört ihr zu. Sie fragt sie. wie es in der Schule gewesen ist. Sie läßt sich von Gretel beschreiben, was sich draußen ereignet, welche Farbe der Himmel hat, wie die Blätter an den Bäumen aussehen, und welche Blumen blühen. Voller Eifer antwortet das Kind auf all ihre Fragen.
Doch es gibt auch andere Momente. Gretel weiß davon, weil sie an der Tür lauscht, nachdem man sie abends schlafen geschickt hat. Sie pflegt dann auf ihr Zimmer zu gehen, wartet eine Viertelstunde, schleicht sich wieder nach unten und preßt ihr Ohr an die Tür. Sie kann einfach nicht anders, denn sie hat Angst. Und was wäre geschehen, hätte sie an jenem schrecklichen Abend nicht gelauscht? Also muß sie damit weitermachen. Sie beginnt, ihre Mutter auf diese Weise zu überwachen... Tatsächlich ist Erika Schneider nicht mehr dieselbe, sobald ihre Tochter nicht mehr bei ihr ist. Sie verfällt in eine düstere, deprimierte Stimmung, und schon bald ist die kleine Gretel an die Gespräche gewöhnt, die die Erwachsenen miteinander führen.
»Wenn Gretel nicht wäre, würde ich Selbstmord begehen«, sagt die Mutter oft. »Es ist zu furchtbar!«
Darauf die Stimme von Großpapa oder Großmama: »Komm schon, Kleines, rede keinen Unsinn!«
»Eines Tages werde ich nicht mehr den Mut haben, um weiterzumachen. Dann werde ich es tun.«
Das alles hört Gretel hinter der Tür. Am liebsten würde sie dann ins Zimmer stürzen und ihrer Mutter um den Hals fallen, aber sie fürchtet, daß man sie schelten könnte. Daher bleibt sie noch ein paar Minuten hinter der Tür stehen, bevor sie schließlich schlafen geht. Und sie nimmt sich vor, am anderen Tag zu ihrer Mutter noch netter zu sein.
Im September des Jahres 1978 wird sie heimlich Zeuge ganz anderer Gespräche. Man redet über den Prozeß, und Gretel begreift, daß es um ihren Vater geht. Man wird ihn als Mörder verurteilen.
Eines Tages wird ihre Mutter von einem schwarzen Wagen abgeholt. Niemand hat Gretel etwas gesagt, weder ihre Mutter noch die Großeltern, doch die Kleine weiß genau, daß die Mutter zum Prozeß fährt. Am folgenden Tag ziehen die
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