Das verwunschene Haus
Immerhin hat sie ihre Mutter schon einmal gerettet. Ganz bestimmt ist es ihr auch jetzt wieder gelungen. In ihrem Zimmer, wo sie in Gegenwart eines Polizisten wartet, vergnügt sie sich seelenruhig mit ihren Spielsachen.
Im Wohnzimmer findet unterdessen ein dramatischer Wortwechsel zwischen dem Kommissar und Erikas Eltern statt. Die beiden allen Leute pressen sich ängstlich aneinander, als der Beamte erklärt: »Sie sind genauso Kriminelle wie Thomas Schneider, und man wird Sie beide wegen desselben Verbrechens verurteilen, nämlich wegen Mordes!«
Erikas Vater versucht, die Tat zu rechtfertigen: »Wir haben es nur getan, um ihr unnötiges Leiden zu ersparen. Sie litt unter körperlichen Schmerzen, denn sie hatte zuletzt auch noch Rheumatismus bekommen. Vor allem aber hat sie seelisch gelitten, Sie ahnen ja nicht, wie sehr! Jeden Tag hat sie uns angefleht, dem ein Ende zu machen.«
Doch der Kommissar läßt sich nicht überzeugen.
»Und was ist mit dem Kind, das uns angerufen hat, dieses arme Kind, das jetzt alles zum zweiten Mal erlebt? Haben Sie gar nicht an die Kleine gedacht?«
Da brechen die beiden alten Leute zusammen.
»Das haben wir nicht gewollt! Wir wußten ja nicht, daß Gretel an der Tür gelauscht hat! Wir hatten vor, ihr zu sagen, die Mutter sei an den Folgen ihrer Krankheit gestorben.«
Der Kommissar hört ihnen nicht länger zu. Trotz ihres Alters läßt er keine Schonung walten und verhaftet sie.
Erika Schneider hat die Dosis Schlaftabletten, die ihre Mutter ihr verabreicht hatte, nicht überlebt. Sie starb im Krankenhaus, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben. Vielleicht hatte sie tatsächlich sterben wollen, um von ihrem Leiden erlöst zu werden. Wie auch immer, weder sie noch die Großeltern hatten an Gretel gedacht. Denn für das Kind begann die Tragödie jetzt erst richtig.
Man mußte ihr beibringen, daß es ihr nicht gelungen war, ihre Mutter ein zweites Mal zu retten. Die Kleine war Vollwaise geworden, da sie keine Familie mehr hatte.
Am Ende wurden Erikas Eltern zu fünf Jahren Gefängnis mit Bewährung verurteilt. Doch der Hauptzeuge, die Person, die am meisten betroffen war, nahm am Prozeß nicht teil. Gretel Schneider war schließlich erst acht Jahre alt...
Mehrere Familien hatten sich angeboten, der Kleinen ein neues Zuhause zu geben. Hoffen wir, daß dies gelungen ist und daß Gretel vergessen konnte, was sie hinter der Tür belauscht hatte.
Der Henker als Opfer
Am 8. Dezember des Jahres 1780 stürmt der fünfunddreißigjährige Thomas Dietrich in die Polizeipräfektur von Tübingen, der Hauptstadt des Königreiches Württemberg. Der blonde, gutgewachsene junge Mann ist in schwere Pelze gehüllt, denn an diesem Tag herrscht eisiger Frost.
Er schnauzt den Pförtner an: »Wo ist der Polizeipräfekt? Ich muß ihn umgehend sprechen!«
Der Pförtner eilt davon, um seinen Vorgesetzten zu rufen, wobei sein Gesichtsausdruck eine Mischung aus Furcht und Überraschung zeigt. Schließlich weiß jeder in der Gegend, wer Thomas Dietrich ist: Er ist der Henker von Tübingen. Kurz darauf sieht sich dieser dem Polizeipräfekten des Königreiches gegenüber, Johann Berger, der wie gewöhnlich mit äußerster Sorgfalt gekleidet ist. Darüber hinaus trägt er bei jeder Gelegenheit ein besonders feines Gebahren zur Schau, was ihn allerdings nicht hindert, sein Amt mit unerbittlicher Härte auszuüben.
»Nun, mein lieber Dietrich, was führt Euch zu mir?«
Thomas Dietrich entledigt sich seines Umhangs und läßt sich in einen Stuhl fallen.
»Es handelt sich um etwas Schreckliches, um etwas ganz Abscheuliches! Ich habe jemanden enthauptet!«
Diese Antwort ist so unerwartet, daß der Polizeipräfekt in lautes Gelächter ausbricht.
»Ihr habt jemanden enthauptet? Das ist wahrlich eine große Neuigkeit!«
Doch der Henker selbst lacht nicht.
»Laßt mich weiterreden. Ich habe gestern abend jemanden enthauptet!«
»Gestern abend? Aber...«
Thomas Dietrich sinkt noch tiefer in seinen Stuhl.
»Ja, Ihr habt richtig gehört: Es war gestern abend. Und es handelte sich nicht um die Vollstreckung eines Gerichtsurteils, sondern um etwas... um etwas anderes.«
Und dann erzählt der Henker von Tübingen dem Polizeipräfekten Johann Berger eine geradezu unglaubliche Geschichte...
Alles hatte im Morgengrauen des Vortages begonnen. Wie es für einen Mann üblich ist, der das Amt des Henkers ausübt, wohnt Thomas Dietrich nicht in der Stadt selbst. Sein Haus befindet sich ganz am Rande
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