Das verwunschene Haus
von Tübingen, weit weg von den Wohngebieten der anderen. Außerdem ist er unverheiratet, was bei Männern seines Berufes ebenfalls häufig vorkommt. Er hat noch keine passende Frau gefunden.
Er ist daher allein, als eine große Kutsche vor seinem Hause hält. Drei Männer steigen aus und klopfen an seine Tür.
»Bist du der Henker von Tübingen?«
»Ja, der bin ich.«
Mehr zu sagen bleibt ihm keine Zeit, denn man wirft ihm eine Decke über den Kopf, und während er sich noch vergeblich zu befreien versucht, wird er gefesselt und in den Wagen gestoßen, der sofort losfährt.
Alsbald wird die Decke durch eine Augenbinde ersetzt, und er vernimmt die Worte: »Hab keine Angst, wir werden dir nichts tun. Aber wenn du zu entkommen oder zu schreien versuchst, bist du ein toter Mann!«
Und tatsächlich fühlt Thomas Dietrich den Lauf einer Pistole an der Schläfe. Was soll er also anderes tun, als zu gehorchen?
Die Reise erscheint ihm unendlich lang. Sie dauert einen halben Tag oder vielleicht auch länger, doch wer nur Dunkelheit um sich hat, verliert jedes Zeitgefühl.
Die Kutsche hält mehrmals an, um die Pferde zu wechseln. Als sie wieder einmal zum Stehen kommt, vernimmt Dietrich das Geräusch von klirrenden Ketten, und als sich das
Gefährt erneut in Bewegung setzt, das Geräusch von Rädern auf einer Holzunterlage. Kein Zweifel, denkt er, soeben hat man eine Zugbrücke passiert. Nachdem abermals ein Kettengeräusch ertönt und die Zugbrücke hochgezogen wird, bleibt die Kutsche endgültig stehen.
Vier kräftige Hände packen den jungen Mann und befördern ihn rüde ins Freie. Eisige Luft kommt ihm entgegen, als er in den Schnee hinausstolpert. Er errät, daß er sich im Innenhof eines Schlosses befinden muß.
Zwei Männer ziehen ihn mit sich fort und führen ihn eine Treppe hinunter. Er zählt die Stufen: Es sind achtundachtzig. Je weiter er hinabsteigt, desto glitschiger werden sie. Mehrmals verliert er das Gleichgewicht, bis er endlich ganz unten angelangt ist. Seine Schritte erzeugen einen lauten Widerhall, als befände er sich in einer Kathedrale.
In dem Moment wird er losgelassen und die Binde von seinen Augen entfernt. Fassungslos betrachtet Thomas Dietrich seine Umgebung: Er befindet sich in einer weitläufigen Krypta. An den Wänden des riesigen Gewölbes sind Fackeln angebracht, die einen düsteren Schein erzeugen. Ihm gegenüber sitzen sieben Gestalten an einem langen Tisch. Sie alle sind maskiert und tragen das Gewand eines Richters.
Der junge Mann wendet den Kopf und fährt entsetzt zusammen, als er auf der linken Seite des Raumes einen Richtblock und ein Beil entdeckt, genau wie er sie für offizielle Hinrichtungen verwendet!
Die in der Mitte sitzende Gestalt ergreift schließlich das Wort: »Thomas Dietrich, wir haben dich hierher gebracht, damit du deiner Pflicht nachkommst.«
Auf eine Handbewegung von ihm erscheinen zwei gleichfalls maskierte Personen durch eine Tür im hinteren Teil des Gewölbes. Sie führen eine Frau herein, die ein schwarzes Kleid trägt und deren Kopf mit einem schwarzen Schleier bedeckt ist. Ein paar blonde Locken kommen darunter hervor und fallen ihr auf die Schultern. Ihre Hände sind auf dem Rücken zusammengebunden, und man sieht die weiße Haut ihrer wohlgeformten Arme. Es ist eine junge, zweifellos sehr schöne Frau, die sich unter dieser Aufmachung verbirgt.
Der Henker stößt einen Schrei aus: »Nein, niemals!«
Der Richter in der Mitte der Versammlung zieht daraufhin eine Pistole aus seiner Weste und erklärt: »Ich gebe dir eine Viertelstunde Bedenkzeit. Wenn du dann noch immer nicht dazu bereit bist, werden wir dich töten und einen anderen finden, der diese Aufgabe an deiner Stelle erledigt. Wie dem auch sei, diese Frau wird ihrer Strafe nicht entkommen.« Thomas Dietrich hat das Gefühl, einen Alptraum zu erleben. Er fragt: »Aber was hat sie denn getan?«
»Du hast ein Recht, das zu erfahren«, erwidert der Maskierte zustimmend.
Doch in dem Moment nähert sich die junge Frau dem Richtertisch und schüttelt verneinend den Kopf.
Der Richter ergreift wieder das Wort: »Da sie es so wünscht, werden wir darüber Stillschweigen bewahren. Also, du hast eine Viertelstunde Zeit!«
Mit zugeschnürter Kehle starrt Thomas Dietrich abwechselnd auf die reglos dasitzenden Männer, die Pistole auf dem Tisch, deren Lauf in seine Richtung zielt, die ebenfalls völlig reglose junge Frau in Schwarz, das Beil und den Richtblock. »Aber das ist doch nicht
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