Das verwunschene Haus
Geschichte inzwischen klargeworden ist. Die Wahrheit ist nämlich mindestens so logisch wie Ihre ursprüngliche Vermutung; sie ist lediglich noch ein bißchen komplizierter.«
Der Kommissar sagt nichts mehr. Er hört einfach zu. »Zunächst muß ich Ihnen einiges über den höchst unangenehmen Zeitgenossen erzählen, der sich John Harvey nennt. Er hat Ihnen sicher gesagt, daß er ein Studienkollege von Harry in Eton war. Hat er dem noch etwas hinzugefügt?«
»Nein.«
»Das dachte ich mir. Dabei hätte er noch einiges zu berichten gehabt. Er hätte Ihnen von meiner Existenz erzählen können, denn schließlich war ich in derselben Studienklasse wie mein Bruder. Und außerdem hätte er Ihnen sagen können, daß er unsertwegen aus Eton herausgeflogen ist, da wir ihn angezeigt hatten...«
»Angezeigt?«
»Harry und ich waren die besten Spieler in unserer Cricketmannschaft. John Harvey war der Kapitän einer gegnerischen Mannschaft. Am Tag vor der Endausscheidung, an der das ganze College beteiligt war, bot er uns Geld an, falls wir bereit wären zu verlieren. Daraufhin haben wir ihn bei der Collegeleitung angezeigt. Angesichts eines derart schwerwiegenden Tatbestands hat man ihn auf der Stelle gefeuert, und seitdem haßte er uns beide.«
Der Kommissar beginnt jetzt Zusammenhänge zu ahnen, die sich von seinen ursprünglichen Vermutungen gewaltig unterscheiden.
»Aber wie kam es dann, daß...«
»Daß mein Bruder sich von ihm Geld geliehen hat? Ich verstehe gut, daß Sie sich diese Frage stellen... Nun, Sie müssen wissen, daß Harvey meinen Bruder auch nach seinem Rausschmiß aus Eton von Zeit zu Zeit gesehen hat. Er schien alles vergessen zu haben und keinerlei Rachegelüste zu hegen. Harvey ist sehr wohlhabend, und als Harry in finanzielle Schwierigkeiten geriet, bot Harvey spontan an, ihm Geld zu leihen. Ich sagte zu Harry, er solle sich nicht darauf einlassen, weil es sicher eine Falle sei, doch er wollte nicht auf mich hören. Was dann geschah, wissen Sie ja. Unglücklicherweise war ich vorübergehend selbst in einen finanziellen Engpaß geraten, als Harry ihm das Geld zurückzahlen mußte. Ich konnte daher auch nichts für ihn tun.«
Kommissar Humblett betrachtet den Mann ihm gegenüber, einen Mann, den er noch vor kurzer Zeit verhaften wollte und der in Wahrheit das eigentliche Opfer ist.
Dr. Jack Higgins spricht weiter: »John Harvey wußte genau, wozu er sich diese Geschichte von dem angeblichen Phantom ausgedacht hatte. Er wußte, daß man mich beschuldigen würde, mich! Damit wäre seine Rache vollendet gewesen.« Kopfschüttelnd meint der Beamte: »Und aus diesem Grund hat er nicht einmal davor zurückgeschreckt, sich selbst zehn Messerstiche beizubringen...«
»Ja, er muß uns glühend gehaßt haben.«
Mrs. Higgins ergreift zum ersten Mal das Wort und fragt den Kommissar: »Was werden Sie jetzt tun?«
»Mit John Harvey? Nichts. Offiziell kann ich ihm ja nichts anlasten. Natürlich hat er die Geschichte von dem Phantom erfunden, aber er würde vielleicht behaupten, dies sei durch den Schock bedingt gewesen. Nein, ich werde den Fall zu den Akten legen.«
Und nach kurzem Schweigen fügt Humblett hinzu: »Im Grunde hat er sich selbst bestraft. Mit diesen zehn Messerstichen ist Ihr Bruder wirklich genügend gerächt worden, finden Sie nicht auch?«
Die dritte Frau
Monsieur und Madame Vacherot sitzen im Eßzimmer ihrer Wohnung in der Pariser Rue de Vaugirard beim Abendessen, oder vielmehr beim Souper, wie man im Jahr 1882 zu sagen pflegt.
Der achtundzwanzigjährige Gaston Vacherot ist ein gutaussehender Mann. Er hat dunkles Haar und einen ebensolchen Backenbart, sein Blick ist warm und herzlich. Seine Gestalt beeindruckt zusätzlich durch die elegante Körperhaltung. Darüber hinaus lebt er in besten finanziellen Verhältnissen. So hat er sich rasch an die feinen Anzüge und Mäntel gewöhnt, die er sich seit seiner Heirat mit Augustine leisten kann. Während er früher eher das Leben eines Bohemiens geführt hat, ist es ihm nun mühelos gelungen, den luxuriösen Lebensstil zu übernehmen, der ihm durch das Vermögen seiner Frau ermöglicht worden ist.
Im Moment trägt Gaston Vacherot jedoch eine reichlich betrübte Miene zur Schau, nachdem er einen Blick auf seine teure Uhr geworfen hat.
»Ich fürchte, ich muß Sie in einer halben Stunde verlassen, meine Liebe«, sagt er zu seiner Frau. »Ich muß am Gare d’Orsay einen Mandanten vom Zug abholen.«
Überrascht erwidert Augustine:
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