Das verwunschene Haus
»Einen Mandanten? Wieso das? Kann Monsieur Constant nicht selbst hingehen?«
»Aber das ist ein besonderer Vertrauensbeweis mir gegenüber«, meint Gaston lächelnd. »Ich bin immerhin sein Bürovorsteher und werde eines Tages seine Nachfolge antreten.« Seufzend erklärt Augustine: »Na gut, wenn es sein muß, Gaston. Aber trotzdem! Wie schade, daß er uns damit eines gemeinsamen Abends beraubt!«
Augustine Vacherot wirft ihrem Mann einen sehnsüchtigen Blick zu. Ganz offensichtlich ist sie leidenschaftlich in ihn verliebt, und diese Gefühlsregungen lassen ihr sonst eher reizloses Gesicht beinahe verführerisch erscheinen. Augustine, die Tochter eines reichen Börsenmaklers, ist eine große, knochige Frau, deren äußere Vorzüge lediglich in ihrem prächtigen blonden Haar und ihrem sanften Blick bestehen.
Sie seufzt noch einmal tief, und kurz darauf verläßt Gaston das Haus. Er werde gegen elf Uhr zurück sein, erklärt er ihr. Nachdem er fort ist, versucht Augustine ihre Ungeduld zu zügeln, indem sie sich mit einer Stickerei beschäftigt. Die Zeit vergeht... Sie fühlt sich immer so verloren, wenn Gaston nicht da ist.
Endlich ist es elf Uhr. Doch das erwartete Klingeln an der Haustür ertönt nicht. Sie geht ans Fenster, um nach einer Kutsche Ausschau zu halten und sieht, daß die Straße menschenleer ist. Die Minuten vergehen, bis aus Minuten Stunden geworden sind...
Die unglückliche Augustine Vacherot durchlebt alle Stadien der Angst. Zunächst sagt sie sich noch, Gaston sei womöglich aufgehalten worden, doch irgendwann kann sie sich mit diesem Gedanken nicht länger trösten. Am frühen Morgen ist sie derart in Panik, daß sie zur Polizei eilt.
Aufmerksam lauscht Kommissar Cournet dem Bericht von Madame Vacherot und erklärt dann: »Falls Ihr Gatte einen Unfall hatte, wären wir sehr rasch darüber informiert...«
Er betrachtet die vor ihm sitzende Augustine und fährt fort: »Aber meiner Ansicht nach handelt es sich eher um eine Flucht.«
Ein empörter Schrei ertönt.
»Mein Gaston würde niemals so etwas tun! Er ist das Musterbeispiel eines Ehemannes!«
Während Kommissar Cournet seine Besucherin hinausbegleitet, versucht er, sie zu beschwichtigen: »Ich bin verpflichtet, sämtliche Hypothesen in Betracht zu ziehen, Madame. Für den Moment denke ich jedenfalls lieber an eine weniger tragische Möglichkeit. Und Sie sollten jetzt am besten nach Hause zurückkehren. Sobald ich in Besitz von weiteren Informationen bin, werde ich Sie aufsuchen.«
Und tatsächlich gibt es schon am Nachmittag etwas Neues. Ein Passant liefert bei der Polizei eine Brieftasche ab, die er an einem Quai der Seine in der Nähe der Brücke von Auteuil gefunden hat. Die Brieftasche enthält die Papiere von Gaston Vacherot.
Während sich der Kommissar zum Wohnsitz der Vacherons in der Rue de Vaugirard begibt, ist er erstmals beunruhigt. Seine Intuition trügt ihn nur selten, und er hatte in Madame Vacheron sofort den Inbegriff der vernachlässigten Ehefrau gesehen. Inzwischen muß er sich jedoch eingestehen, daß die Angelegenheit eine ganz andere Wendung nimmt.
Augustine Vacherot bricht zusammen, als ihr der Beamte die Brieftasche ihres Mannes zeigt. Nachdem die erste Verzweiflung ein wenig abgeklungen ist, gelingt es ihr, Cournets Fragen zu beantworten.
»Sagen Sie, Madame, hatten Sie sich vielleicht gestritten?«
»Nein, keineswegs. Gaston ist die Güte in Person.«
»Oder haben Sie bei Ihrem Gatten in letzter Zeit eine Veränderung festgestellt, eine gewisse Melancholie vielleicht?« Augustine gerät bei dieser Frage erneut außer Fassung: »Gaston hat seinem Leben kein Ende gemacht, falls Sie darauf hinauswollen. Er war gestern ganz wie immer, vollkommen heiter und sorglos.«
Der Kommissar nimmt diese Auskunft ohne jede Überraschung zur Kenntnis. Auch er glaubt nicht an Selbstmord. Wenn man sich in die Seine werfen will, nimmt man für gewöhnlich nicht vorher noch seine Brieftasche heraus. Höchstens würde man seine Kleider ablegen. Und dann ist da noch etwas anderes...
»Sie haben mir erzählt, daß Ihr Mann einen Mandanten von Monsieur Constant am Bahnhof abholen wollte, nicht wahr?«
»Ja, Herr Kommissar.«
»Ich bin untröstlich, Madame, aber ich bin auf dem Weg hierher in der Kanzlei vorbei gegangen, und dort hat man mir gesagt, daß gestern abend kein Mandant erwartet worden sei.«
Augustine Vacherot hat plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. In einem Anflug von Schwindel sieht sie einen
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