Das verwunschene Tal
waren unvollständig auseinandergeklappt. Die hellen, weichen Fasern des
Inneren zeigten jeweils die Umrisse des Pferdekörpers mit dem schlanken Kopf und dem unterarmlangen Horn, das aus der Stirn herauswuchs. Hier hatte demnach das Einhorn geschlafen oder gewartet. Und Hesters Anwesenheit hatte es aufgeweckt.
Erst jetzt sahen sie, dass sich um die drei Podeste jeweils ein Haufen von Mauertrümmern aufgetürmt hatte. Die Kokons waren also eingemauert gewesen, und irgendein Zauber hatte sie zerbrochen. Die Tiere und Hester verfügten nicht über die Kraft und die Werkzeuge, die Steine aufzubrechen.
»Hier also schlief das Einhorn über eine unglaublich lange Zeit hinweg«, murmelte Mythor und ging zum nächsten Podest. Der Gespinstkokon war weitaus kleiner.
Hier waren zweimal die Körperumrisse eines Wolfes eingedrückt, der in der für diese Tiere typischen Haltung zusammengekauert geschlafen hatte oder erstarrt war. Von den Enden der aufgeklappten Schalen hingen dicke Gespinstfäden und hatten sich auf die Trümmer gelegt.
Es schien, als wären die Kokons in ihrer steinernen Gruft aufgehängt gewesen oder wenigstens aufrecht festgehalten worden. Mythor fasste ins Innere und fand einen weichen, flaumartigen Flor, der die Haut und das Fell des Wolfes geschützt hatte. Hier hatte der Wolf auf seinen richtigen Besitzer gewartet. Es war müßig, sich vorstellen zu wollen, auf welche Weise Hester den Bitterwolf und das schwarze Einhorn geweckt hatte.
Und ebenso unklar blieb Mythor, wie er es hätte anstellen sollen, die Tiere aus ihrem steinernen Gefängnis zu befreien.
Der dritte Kokon hatte den Schneefalken enthalten. Ein fast kugelförmiger Schutzbehälter, kleiner als ein Schild und aufgeklappt, zeigte den Falken mit halb ausgebreiteten Schwingen. Der Kopf war vorgestreckt gewesen, der Hakenschnabel zeichnete sich scharf ab. Mythor zog die Schultern hoch und sagte schließlich nachdenklich und bitter: »Hester ist uns zuvorgekommen. Ich kann ihm den Besitz dieser wunderbaren Tiere nicht streitig machen. Ihr wisst, warum.«
Sie glaubten es zu wissen. Wer Hester gesehen hatte, noch vor kurzer Zeit innerlich und äußerlich ein Krüppel, wer ihn miterlebt hatte, wie er auf dem Rücken des Einhorns strahlend einhergeritten war, konnte nicht daran denken, ihm den Besitz des Schneefalken, des Bitterwolfs und des Einhorns streitig zu machen.
Mythor schritt schweigend die Rampe hinauf und setzte sich an der Kante des riesigen Loches in der Kuppel auf eine umgestürzte Säule. Er legte das Gesicht in die Hände und versuchte sich darüber klarzuwerden, wie es nun weitergehen sollte.
Die Sonne stach warm in seinen Nacken. Er ließ die Ereignisse der letzten Tage und Stunden noch einmal an sich vorbeiziehen. Das Ziel, das er hartnäckig verfolgt hatte, gab es nicht mehr. Er spürte kaum, wie sich Kalathee neben ihn setzte und an seine Schulter lehnte.
»Du bist traurig, Mythor?« fragte sie leise. »Kann ich dir helfen?«
Er schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln. »Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, wie es weitergeht.«
»Das gilt nur für jetzt, für diese Stunde«, sagte sie beschwichtigend. »Morgen sieht alles anders aus. Du wirst eine neue Aufgabe erhalten.«
»Und wenn nicht, stellst du dir selbst eine abenteuerliche Aufgabe!« pflichtete ihr Nottr bei. »Bist du hungrig, Freund?«
Mythor schüttelte den Kopf. Seine Hand bewegte sich wie selbständig. Sie glitt unter das Wams und berührte das Pergament, an das er lange nicht mehr gedacht hatte. Liegt hier die Aufgabe? fragte er sich.
»Du musst etwas essen, Mann!« beschwor ihn Steinmann Sadagar. »Enttäuschung und Hunger ergeben eine gefährliche Mischung.«
Mythor winkte ab. Sie mochten recht haben. Vielleicht war es so. Die unheimliche Ruhe im Inneren des Bauwerks kam hinzu und bedrückte ihn zusätzlich, ohne dass er es merkte. Dann spürte er tief in seinem Bewusstsein, wie sich eine Stimme meldete.
Sei nicht niedergeschlagen, schien sie ihm sagen zu wollen. Der Misserfolg wird von kurzer Dauer sein!
Der Helm der Gerechten »sprach« zu ihm! Die drängende Stimme fuhr fort. Was sie ausdrückte, war folgendes: Verlasse das Tal in östlicher Richtung! Lass deine Freunde hier! Du brächtest sie in Gefahr, und sie wären hinderlich. Ein neuer Schritt auf dem Weg zu deiner Bestimmung wartet darauf, getan zu werden.
Er stand auf. Seinem Gesichtsausdruck konnten die Freunde entnehmen, dass in ihm eine innerliche Wandlung vorgegangen war. Er begann zu
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