Das vielfarbene Land
als akademisch erweisen, wenn wir tot oder mit ausgebrannten Gehirnen enden ... Glaubst du, Felices Plan wird tatsächlich funktionieren?«
»Überleg dir einmal folgendes, Sohn! Felice wäre leicht fähig, allein zu fliehen. Aber sie hat diesen Plan ausgearbeitet, um auch uns anderen eine Chance zu geben. Du magst die kleine Dame aus Herzensgrund hassen, doch sie könnte es gerade eben fertigbringen. Ich werde mein Bestes für sie tun, obwohl ich nur noch ein alter Krauter einen Schritt diesseits der Fossilierung bin. Du jedoch bist noch jung, Richard. Du siehst aus, als würdest du in einem Kampf deinen Mann stehen. Wir zählen auf dich.«
»Ich bin halb verrückt vor Angst«, vertraute der Pirat ihm an. »Dies winzige goldene Messerchen von ihr! Es ist nichts als ein Spielzeug. Wie, zum Teufel, soll ich es tun?«
Der alte Mann empfahl: »Versuch es mit Ameries Rezept! Bete!«
Im vorderen Teil der Karawane grüßte Basil der Alpinist die sinkende Mondsichel, indem er »Au claire de la lune« auf seinem Rekorder spielte. Die kleine Schmetterlingstänzerin aus Paris, die neben ihm ritt, sang mit. und erstaunlicherweise stimmte Epone mit einer Sopranstimme von schmelzender Fülle ein. Die Fremde fuhr fort zu singen, als Basil verschiedene andere Lieder spielte, doch als er mit »Londonderry Air« begann, galoppierte einer der Soldaten auf seinem Chaliko zurück und sagte: »Die Hohe Dame verbietet dem Volk, dies Lied zu singen.«
Der Bergsteiger zuckte die Achseln und steckte seine Flöte weg.
Die Schmetterlingstänzerin sagte: »Das ungeheuer singt dies Lied mit ihren eigenen Worten. Ich habe sie in der Torburg gehört, in der ersten Nacht unserer Gefangenschaft. Ist es nicht seltsam, daß ein ungeheuer musikalisch ist? Es ist wie ein Märchen und Epone ist die schöne, böse Hexe.«
»Die Hexe mag vor Morgengrauen ein anderes Lied singen«, murmelte Felice, aber nur die Nonne hörte sie.
Die Karawane kam näher und näher an das westliche Ufer des großen Sees heran. Sie mußte ihn umrunden, bevor es in östlicher Richtung durch das Tal von Beifort zwischen dem Hochland der Vogesen und dem Jura ins Tal des Urrheins weiterging. Das Wasser des Sees war ganz ruhig und reflektierte die helleren Sterne wie ein tintenfarbener Spiegel. Als der Weg um ein Vorgebirge bog, sahen sie auch den Widerschein eines fernen Signalfeuers als orangefarbene Streifen, der über eine breite Bucht hinweg auf sie zielte.
»Sieh mal nicht nur ein Feuer, sondern zwei!« Felices Stimme klang ein wenig aufgeregt. »Zum Teufel, was kann das zu bedeuten haben?«
Einer der Soldaten aus der Nachhut der Karawane galoppierte an ihnen vorbei, besprach sich mit Captal Waldemar und kehrte an seinen Platz zurück. Die Chalikos fielen in Schritt und blieben schließlich ganz stehen. Epone und Waldemar verließen den Weg und ritten einen kleinen Hügel hinauf, von wo aus sie den See überblicken konnten.
Felice schlug sacht mit der Faust in die Handfläche und flüsterte: »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«
»Da draußen auf dem Wasser ist etwas«, stellte Amerie fest.
Ein leichter Nebel verschleierte das Gebiet der Bucht. Ein Teil davon schien sich vor ihren Augen zu verdichten und Leuchtkraft zu gewinnen. Dann brach das Gebilde in vier getrennte, trüb glänzende Massen, undeutlich und gestaltlos, auseinander. Während sich diese Irrlichter näherten, wurden sie größer und erstrahlten in Farben das eine in schwachem Blau, ein anderes in blassem Gold und zwei in tiefem Rot. Sie tanzten auf und nieder und folgten einem trügerischen Pfad über das Wasser zu einer Stelle am Ufer, die nicht weit von der haltenden Karawane entfernt war.
»Les lutins«, sagte die Schmetterlingstänzerin, die Stimme rauh vor Angst.
Der zentrale Teil der Masse enthüllte eine innerhalb des Glühens schwebende Gestalt. Es waren runde Körper mit herabbaumelnden, sich biegenden Fortsätzen. Sie waren mindestens doppelt so groß wie ein menschliches Wesen.
»Sie sehen wie riesige Spinnen aus!« flüsterte Amerie.
»Les lutins araignees«, wiederholte die Tänzerin. »Meine Grandmere hat mir die alten Geschichten erzählt. Das sind die Gestaltwandler.«
»Es ist eine Illusion«, entschied Felice. »Seht euch Epone an!«
Die Tanu-Frau hatte sich in den Steigbügeln erhoben, so daß sie hoch über dem Rücken ihres regungslosen weißen Chalikos aufragte. Die Kapuze ihres Mantels fiel zurück, und ihr Haar leuchtete in dem mannigfach schattierten Licht, das von den
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