Das vierte Protokoll
Hirn vom Alkohol umnebelt war und nicht von Schmerz und durch Blutverlust, aber er war genauso gefährlich.
»Nicht Operation, keine Operation, ganze Schose abgeblasen.
Geheimhaltung geschworen... wir alle. Sehr hoch oben.. höher, als Sie sich vorstellen können. Nicht mehr darauf zurückkommen, ja?«
»Nicht im Traum«, sagte Karpow und goß erneut die Gläser voll. Er machte sich Martschenkos Betrunkenheit zunutze, um dessen Glas höher zu füllen als sein eigenes, aber er hatte Mühe, genau zu zielen.
Zwei Stunden später war die letzte Flasche Akhtamar zu einem Drittel geleert. Martschenko war zusammengesunken, sein Kinn lag auf der Brust. Karpow hob sein Glas zu einem weiteren der zahllosen Toasts.
»Auf das Vergessen.«
»Vergessen?«
Martschenko schüttelte verständnislos den Kopf.
»Ich bin in Ordnung. Sauf euch EHD-Scheißer jederzeit unter den Tisch. Bin nicht vergeßlich..«
»Nein«, korrigierte Karpow. »Vergessen. Den Plan vergessen. Schwamm drüber, ja?«
»Aurora? Richtig, Schwamm drüber. Prima Idee wars aber doch.«
Sie tranken. Karpow goß nach.
»Nieder mit der ganzen Bande«, lautete sein nächster Trinkspruch. »Philby verrecke... und der Eierkopf dazu.«
Martschenko nickte zustimmend. Das Glas hatte seinen Mund verfehlt, und der Kognak lief ihm übers Kinn.
»Krilow? Arschloch.«
Es war Mitternacht, als Karpow zu seinem Wagen taumelte. Er lehnte sich an einen Baum, steckte zwei Finger in den Hals und erbrach, soviel er hervorwürgen konnte. Dann sog er tief die eisige Nachtluft ein. Es half, aber die Fahrt zu seiner Datscha war mörderisch. Er schaffte sie, mit einer verbogenen Stoßstange und zwei tiefen Kratzern. Ludmilla hatte im Morgenrock auf ihn gewartet und brachte ihn zu Bett. Sie war entsetzt bei dem Gedanken, daß er in diesem Zustand die ganze Strecke von Moskau bis zur Datscha gefahren war.
Am Samstagmorgen fuhr John Preston nach Tonbridge, um seinen Sohn Tommy abzuholen. Wie immer, wenn sein Dad ihn mit nach Hause nahm, war der Redefluß des Jungen kaum zu bremsen: Geschichten aus dem abgelaufenen Schulsemester, Ausblicke auf das nächste, Pläne für die kommenden Ferientage, Lobreden auf seine besten Freunde und deren Vorzüge, Schmähreden auf alle, die er nicht leiden konnte.
Koffer und Tasche waren im Kofferraum verstaut, und auf der Rückfahrt nach London war Preston überglücklich. Er zählte auf, was er sich alles für diese eine gemeinsame Woche ausgedacht hatte und freute sich, daß seine Pläne Anklang fanden. Nur einmal wurde das Gesicht des Jungen lang, als die Rede darauf kam, daß er nach Ablauf einer Woche in das schicke, empfindliche und ungeheuer kostspielige Apartment in Mayfair übersiedeln müsse, das Julia mit ihrem Lebensgefährten, dem Kleiderfabrikanten, bewohnte. Der Mann war alt genug, um Tommys Großvater sein zu können, und Preston argwöhnte, daß schon die kleinste Beschädigung dieses trauten Heims die Stimmung auf den Nullpunkt würde sinken lassen.
»Dad«, sagte Tommy, als sie über die Vauxhall Bridge fuhren, »warum kann ich denn nicht die ganzen Ferien über bei dir bleiben?«
Preston seufzte. Es war nicht leicht, einem Zwölfjährigen das Scheitern einer Ehe und dessen finanzielle Konsequenzen zu erklären.
»Weil«, sagte er vorsichtig, »deine Mammi und Archie nicht wirklich verheiratet sind. Wenn ich sie zwingen wollte, sich von mir scheiden zu lassen, könnte sie Geld von mir verlangen, Unterhaltszahlung nennt man das, und das könnte ich nicht zahlen, ich verdiene nicht so viel. Auf keinen Fall genug, daß es für mich reicht, für deine Schule und für Mammi. Und wenn ich diesen Unterhalt nicht zahlen kann, dann findet der Scheidungsrichter womöglich, daß du am besten ganz bei deiner Mutter lebst. Und wir würden einander nicht einmal mehr so oft sehen wie jetzt.«
»Ich hab' nicht gewußt, daß es am Geld liegt«, sagte der Junge traurig.
»Fast alles liegt letzten Endes am Geld. Traurig, aber wahr. Wenn ich uns dreien vor Jahren ein besseres Leben hätte bieten können, hätten Mammi und ich uns wahrscheinlich nicht getrennt. Ich war nur Offizier bei der Army, und als ich von der Army weg und ins Innenministerium ging, war das Gehalt auch nicht viel höher.«
»Und was machst du eigentlich im Innenministerium?«
fragte der Junge. Er ließ das Thema der elterlichen Entfremdung einfach fallen, wie jeder junge Mensch versucht, vor schmerzlichen Tatsachen die Augen zu verschließen. »Ach, ich bin so eine Art
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