Das vierte Protokoll
Verwendung?«
»Nun, eine Poloniumscheibe von dieser Größe kann von sich aus gar nichts tun. Wenn man sie aber mit einer anderen Scheibe aus Lithium kombiniert, dann bilden die beiden zusammen einen Initiator.«
»Einen was?«
»Einen Initiator.«
»Und, bitte, was zum Teufel ist das?«
»Am l.Juli 1968«, sagte Professor Krilow, »wurde zwischen den damaligen Nuklearmächten, den USA, Großbritannien und der UdSSR, der Atomwaffensperrvertrag geschlossen.
In diesem Vertrag verpflichteten sich die drei Signatarstaaten, weder die Technologie noch das Material zum Bau von Nuklearwaffen an irgendein Land weiterzugeben, das damals noch nicht im Besitz einer derartigen Technologie oder des entsprechenden Materials war. Erinnern Sie sich?«
»Ja«, sagte Karpow, »daran kann ich mich erinnern.«
»Die Unterzeichnungszeremonien in Washington, London und Moskau genossen damals weltweit eine riesige Publizität. Die später folgende Unterzeichnung von vier geheimen Zusatzprotokollen war jedoch von keinerlei Publizität begleitet.
Jedes dieser Protokolle sah eine gefahrbringende Entwicklung voraus, die damals technisch noch nicht möglich war, aber eines Tages technisch möglich werden konnte.
Im Laufe der Jahre wurden die ersten drei Protokolle gegenstandslos, entweder weil die vorausgesehene Entwicklung als unmöglich erkannt wurde, oder weil man in dem Maße, wie die Bedrohung Realität wurde, auch Gegenmittel zu ihrer Abwehr fand. Doch Anfang der achtziger Jahre wurde das vierte und geheimste der Protokolle zu einem regelrechten Alptraum.«
»Was sah das vierte Protokoll voraus?« fragte Karpow.
Professor Krilow schwieg eine Weile.
»Wir ließen uns diese Sache von Dr. Rogow erklären«, sagte er schließlich. »Wie Sie wissen, ist er Kernphysiker; er ist Spezialist auf diesem Gebiet. Das vierte Protokoll sah technologische Fortschritte im Bau von Wasserstoffbomben voraus, hauptsächlich in Richtung Miniaturisierung und Vereinfachung. Und genau das ist offensichtlich eingetreten. Einerseits sind die Waffen unendlich viel mächtiger geworden, aber auch komplizierter in der Herstellung und größer im Volumen. Es gibt aber auch die umgekehrte Entwicklung. Die Atombombe, die damals, 1945, für ihren Transport eine riesige fliegende Festung brauchte, ist heute in so kleinen Abmessungen herstellbar, daß sie in einer Aktenmappe Platz hätte, und so einfach nach dem Baukastenprinzip zu konstruieren, daß man sie aus einem Dutzend vorfabrizierter Bestandteile zusammensetzen kann.« »Und das wird in dem vierten Protokoll geächtet?«
Professor Krilow schüttelte den Kopf.
»Mehr als das. Es verbot allen Signatarmächten die heimliche Einfuhr einer solchen Vorrichtung, zusammengebaut oder in Einzelteilen, in irgendein Land zum Zwecke der Zündung in, sagen wir, einer gemieteten Wohnung oder einem gemieteten Haus im Herzen einer Stadt.«
»Keine Vier-Minuten-Vorauswarnung«, überlegte Karpow, »keine Erfassung einer anfliegenden Rakete über Radar, kein Gegenschlag, keine Identifizierung des Täters. Nur eine Megatonnenexplosion von einer Souterrainwohnung aus.«
»Richtig«, nickte der Professor. »Darum habe ich von einem regelrechten Alptraum gesprochen. Die offenen Gesellschaften des Westens sind verwundbarer; aber auch wir sind keineswegs gefeit gegen eingeschmuggelte Vorrichtungen. Sollte das vierte Protokoll je gebrochen werden, so sind die ganzen Raketen und elektronischen Gegenmaßnahmen, ja sogar der größte Teil des militärisch-industriellen Komplexes zur Bedeutungslosigkeit verurteilt.«
»Und das wollte der Plan Aurora bewirken?«
Krilow nickte. Er schien aufzutauen.
»Aber das Ganze wurde abgeblasen«, fuhr Karpow fort, »der Plan ist, wie wir das bei uns nennen, gestorben.«
Krilow schien sich förmlich an das Wort zu klammern.
»Ganz richtig. Gestorben.«
»Aber sagen Sie mir, was passiert wäre, wenn«, drängte Karpow.
»Es war beabsichtigt, nach England einen sowjetischen Spitzenagenten einzuschleusen, der irgendwo in der Provinz ein Haus gemietet und den Plan Aurora ausgeführt hätte.
Sorgfältig ausgewählte Kuriere hätten ihm die rund zehn Bestandteile einer kleinen Eineinhalb-Kilotonnen-Atombombe gebracht.«
»So klein? In Hiroshima waren es zehn Kilotonnen.«
»Es war nicht beabsichtigt, großen Schaden anzurichten. Das hätte zu einer Annullierung der Unterhauswahlen geführt. Es war beabsichtigt, einen angeblichen nuklearen Unfall zu inszenieren, der die zehn Prozent
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