Das vierte Protokoll
England schickte; gefährliche Lieferungen, die Anarchie und Chaos bringen sollten, in einem Ausmaß, das Sir Nigel noch nicht absehen konnte, aber immer weniger bezweifelte, je weiter er in seinen Überlegungen fortschritt. Und dieser Mann arbeitete für einen weiteren Mann, einen sehr hochgestellten, der diese kleine Insel gar nicht liebte.
»Aber du wirst sie nicht finden, John«, murmelte er in den gleichgültigen Wind. »Du bist gut, aber sie sind besser. Und sie halten die Trümpfe in der Hand.«
Sir Nigel war einer der letzten Grandseigneurs, Angehöriger einer aussterbenden Rasse, die auf allen Ebenen der Gesellschaft von neuen Männern eines anderen Typus ersetzt wurde, auch in den höchsten Regionen des Geheimdiensts, wo Kontinuität in Stil und Typus sozusagen zum Mobiliar gehörten.
Also blickte er hinaus über den Kanal, wie schon so viele Engländer vor ihm, und traf seine Entscheidung. Noch stand nicht fest, daß das Land seiner Väter ernstlich bedroht war; fest stand hingegen, daß die Möglichkeit einer solchen Bedrohung existierte. Aber das genügte.
An derselben Küste, ein Stück weiter östlich, stand auf den Dünen über der kleinen Hafenstadt Newhaven in Sussex gleichfalls ein Mann und blickte auf die anbrandenden Wogen des Ärmelkanals.
Er trug einen schwarzledernen Motorradanzug, den Helm hatte er auf den Sitz seiner geparkten BMW gelegt. Ein paar Sonntagsausflügler mit ihren Kindern spazierten über die Dünen, aber sie schenkten ihm keine Beachtung.
Er beobachtete das Näherkommen eines Fährschiffs, das schon vor einiger Zeit am Horizont aufgetaucht war und sich auf die schützende Hafenmole zupflügte. In einer halben Stunde würde die aus Dieppe kommende Cornouailles anlegen. Kurier Nummer fünf müßte an Bord sein.
Kurier Nummer fünf stand tatsächlich auf dem Vorderdeck und sah die englische Küste herankommen. Er gehörte zu den Nichtmotorisierten und hatte eine Fahrkarte für das Fährschiff plus Anschlußzug nach London.
Sein Paß lautete auf den Namen Anton Zelewski, und so lautete auch sein wirklicher Name. Ein Paß der Bundesrepublik Deutschland, wie der Kontrollbeamte feststellte, aber das war nichts Besonderes. Hunderttausende Westdeutsche haben polnisch klingende Namen. Zelewski wurde durchgewinkt.
Der Zoll untersuchte seinen Koffer und die Tragtasche mit den zollfreien Waren, die er auf dem Schiff gekauft hatte. Die Flasche Gin und die fünfundzwanzig Zigarren in einem ungeöffneten Kistchen standen ihm zu. Der Zollbeamte ließ ihn weitergehen und wandte sich einem anderen Reisenden zu.
Zelewski hatte wirklich im Duty-free-Shop der Cornouailles ein Kistchen mit fünfundzwanzig guten Zigarren gekauft. Dann hatte er sich in einen Waschraum zurückgezogen, die Tür verriegelt, die Duty-free-Etiketten von dem soeben gekauften Kistchen abgelöst und auf ein zweites, genau gleich aussehendes Kistchen geklebt, das er mitgebracht hatte. Der zollfreie Einkauf flog über Bord und verschwand im Meer.
Im Zug nach London suchte er das der Lokomotive am nächsten gelegene Erste-Klasse-Abteil auf, setzte sich auf den für ihn reservierten Fensterplatz und wartete. Kurz vor Lewes ging die Abteiltür auf und ein in schwarzes Leder gekleideter Mann erschien. Mit einem Blick überzeugte er sich, daß der Deutsche allein im Abteil war.
»Fährt dieser Zug direkt nach London?« fragte er in tadellosem Englisch.
»Ich glaube, er hält auch in Lewes«, erwiderte Zelewski.
Der Mann streckte die Hand aus. Zelewski reichte ihm das Zigarrenkistchen. Der Mann steckte es ins Oberteil seiner Lederjacke, zog den Reißverschluß hoch, nickte und entfernte sich. Als der Zug nach dem Halt in Lewes anfuhr, sah Zelewski den Mann noch einmal: Er stand auf dem Bahnsteig, von dem die Züge in Richtung Newhaven abfahren.
Noch vor Mitternacht lagen die Zigarren bei dem Radio, dem Gipsverband und den Schuhen in Ipswich. Kurier Nummer fünf hatte geliefert.
2. Kapitel
Sir Nigel hatte recht behalten. Auch am Donnerstag, dem letzten Apriltag, ergab sich aus den Unmengen von Computerausdrucken über Ostblockbürger, die in den letzten vierzig Tagen von irgendeinem Ausgangspunkt zu wiederholten Malen nach England einreisten, noch immer kein Muster.
Auch kein Muster aus den Informationen über Personen anderer Nationalitäten, die während dieser Zeitspanne aus Ostblockländern eingereist waren.
Lediglich ein paar Reisepässe waren aus verschiedenen Gründen beanstandet worden, aber auch das
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