Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
Vom Netzwerk:
Endlich. Stunde um Stunde verstrich und mir ging nie der Gesprächsstoff aus. Hagar wollte immer noch mehr über Ari hören. Schmutziger, ausgefallener, detaillierter. Wie in den Filmen. Wie in Amerika. Ich hatte keine Ahnung, wo Ari herkam, aber er hatte diesen Akzent, den die Leute als angelsächsisch bezeichneten.

    Die Mädchen schworen, es wäre nicht auf ihrem Mist gewachsen, dass Ari mich im Kleinbus als »schön« bezeichnet hatte. Dann bliebe als einzige Erklärung die, dass er sich bei mir einschleimen wolle, damit ich ihn am nächsten Tag bei seiner M16-Woche mit den Beduinen-Soldaten nicht so hart rannehmen würde. »Hast du schon mal daran gedacht, dass es noch eine andere Erklärung gibt?«, fragte Hagar und hielt mir ihren Handspiegel hin. »Du siehst heiß aus«, sagte sie.
    Im Kleinbus hatte Hagar mir zwei Zöpfe geflochten und um den Kopf gelegt, was die Haut um meine Augen straffte. Meine Nase sah lang, aber nobel aus, die Wangen waren schmal, die Augen strahlten. Es konnte unmöglich nur an den Haaren liegen – seit ich in Zimmer 3, dem »Sex-Zimmer«, war, hatte ich abgenommen, weil die Mädchen sich nur von Zigaretten und Cola Light ernährten. Die vielen Pickel, die ich jahrelang gehabt hatte, waren weg, aber das fiel mir erst an diesem Tag in Hagars Handspiegel auf. Wenn sich Hagar morgens manchmal langweilte, weckte sie mich, indem sie mir die Augenbrauen zupfte, und erst jetzt merkte ich, wie viel weicher ich dadurch aussah. Jahrelang hatte ich es versucht, aber an diesem Tag wurde ich plötzlich schön, unbeabsichtigt, das schockierte mich.
    Wahrscheinlich war das der Moment, in dem ich Hagar am meisten liebte, als ich vom Spiegel zu ihr schaute und mir klar wurde, dass sie und alle anderen sehen mussten, was ich gerade im Spiegel gesehen hatte – dass ich schön war.

    »Wir müssen uns abkühlen«, sagte Hagar. »Los, wir schießen uns eiskaltes Wasser in die Venen.« In dem Monat war es nach Waffen ihr liebster Zeitvertreib, dass wir uns eiskaltes Wasser in die Venen jagten. Eine von ihren abgedrehten Ideen. Sich eiskaltes Wasser in die Venen zu jagen, würde sich wohl anfühlen wie Winter im Sommer, meinte Hagar, und dass wir es mal ausprobieren sollten.
    Das Ganze lief so ab, dass wir uns Infusionen aus tiefgefrorenen Infusionsbeuteln verabreichten. Weil er in Neta verliebt war, erlaubte uns der Küchenchef, die riesige Gefriertruhe zu nutzen, wo wir die Infusionsbeutel einfroren. Einer von den Sanis von der Krankenstation gab uns immer wieder neue Infusionsbeutel und auch das ganze andere Zeug aus dem Zimmer für die Notfallversorgung, weil er glaubte, in Neta verliebt zu sein, bis er mit Hagar schlief und dann glaubte, er wäre mehr in sie verliebt.
    Wir waren unschlagbar.
    Hagar kniff fest in die Vene an der Innenseite meines Ellenbogens. »Autsch«, sagte ich, lächelte aber.
    »Kann ich dir die Nadel diesmal reinstecken?«, fragte Hagar.
    »So gut sahen meine Haare noch nie aus, Süße«, sagte ich. »Du darfst in mich reinstecken, was du willst.«
    »Ach, Liebling«, sagte Hagar.
    Wir vier gingen in Unterwäsche vor den Container und ignorierten die rauchenden Mädchen, die uns anglotzten.
    Hagar band mir den Arm über dem Ellbogen mit grünem Gummiband ab, das machte sie mit den Zähnen, und ich pumpte mit der Faust. Dann steckte sie gekonnt die Nadel rein. Sie stand auf und hängte den Infusionsbeutel an den Ast des Feigenbaums über uns.
    Als sie das auch mit Neta und Amit gemacht hatte, machte sie es bei sich selbst und legte sich lächelnd auf den Beton. »Gott, erfrische mich!«, schrie sie.
    Wir lagen in Unterwäsche auf dem Beton. Amit lieh mir eine ihrer nachgemachten Prada-Sonnenbrillen. Es war Mittag, und ich konnte die Hitze schmecken.
    Ich dachte an Ari. Die Kälte strömte fast bis in meinen Kopf. Das eiskalte Wasser in meinen Venen war ein Geist, der mich von innen leckte. Ich erhöhte die Tropfgeschwindigkeit, und meine Augen flackerten. Es war eine von Hagars abgefahrenen Ideen, aber nicht die abgefahrenste. Sie hatte so viele Ideen. Einmal überlegte sie, was passieren würde, wenn wir die Infusionsbeutel mit Cola Light füllen würden, und ich musste ihr erklären, dass wir dann Sauerstoff in unseren Blutkreislauf geben würden. Dass uns das umbringen würde. Ich habe keine Ahnung, woher ich das wusste. Neta und Amit sagten, das hätten sie nicht gewusst. Hagar sagte, sie auch nicht. Dann sagte sie, »aber überleg doch mal, was das für ein Abgang

Weitere Kostenlose Bücher