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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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freundlich.
    Und es ergab keinen Sinn. Gar keinen.
    Und sie saß da und dachte nach, und sie verstand es nicht.
    Aber dann verstand sie es.
    Es war die Uniform. Die bescheuerte Uniform unter dem M16, der Munitionsweste und der kugelsicheren Weste, darunter war es die ganze Zeit die grüne Uniform.
    Avishag hatte die Uniform jetzt an, aber sie hatte sie auch letzte Nacht angehabt, als sie aus Nadavs Büro gekommen und zu den Duschen gegangen war. Und sie konnte es jetzt fühlen: Letzte Nacht hatte die Uniform die Stellen berührt, wo er sie geküsst hatte; hier, da, dann tiefer, dann auf der anderen Seite. Und jetzt wurde sie wieder von derselben Uniform berührt, und auf einmal, aus dem Nichts, wurde ihr klar, dass sie das nicht länger ertragen konnte. Aber das allein reichte nicht aus – sie konnte es immer noch fühlen; es war nicht in ihrem Kopf. Sie konnte seinen getrockneten Speichel auf ihrem Kinn fühlen, es war nah und echt und da.
    Es gab keinen Ausweg.
    Bloß dass es einen gab.
    Sie setzte den Helm ab und schleuderte ihn auf den Boden.
    »Avishag?«, fragte Gali.
    Avishag nahm ihr M16 ab. Dann die Munitionsweste, die kugelsichere Weste und die Hundemarke. Sie setzte sich auf die Sachen drauf, als würde sie umkippen, zog die sandigen Stiefel aus und dann die Socken.
    »Avishag, was soll das?«, fragte Gali.
    Avishag knöpfte schnell die Militärbluse auf und löste die Schnalle von ihrem breiten braunen Gürtel. Sie zog das grüne Trägerhemd aus, den roten Mickey-Mouse-Sport-BH und dann die Unterwäsche.
    Als sie schließlich nackt war, legte sie sich auf den Boden des Wachturms und schloss die Augen. Die Sonne röstete ihre Haut in wiederkehrenden Schüben wie bei einem Kind, das am Jakobskraut zog.

    Gali wollte erst losschreien, Avishag eine runterhauen oder sogar über Funk um Hilfe bitten. Aber dann fiel ihr das Seltsamste überhaupt ein.
    Sie dachte daran, dass sie bei ihrem ersten Mal wirklich komplett angezogen war.
    Erst nach ihrem zweiten Orgasmus war ihr klar geworden, dass es ihr zweiter war, dass sie vorher schon einen gehabt hatte.
    Den ersten hatte ihr der Fluss Jordan beschert. Im Kibbuz sprangen die Kinder jedes Jahr zu Pessach von einer Brücke, um das Ende des langen, im Essensraum des Kibbuz stattfindenden Sederabends zu feiern. Aber trotz ihrer Größe hatte Gali ziemliche Höhenangst. Sie fand nie so ganz den Mut zu springen.
    In ihrem letzten Jahr im Kibbuz, als sie schon wusste, dass sie nach Tel Aviv ziehen würde, stand Gali wieder in ihrem gelben Pessach-Kleid an der Betonmauer der Brücke und schaute nach unten. Sie wartete und wartete. Alle anderen waren schon nach Hause gegangen. Die Kiefern streuten ihre orangefarbenen Nadeln aufs Wasser, und greise kleine Wellen näherten sich dem Flussufer mit seinen lilafarbenen Sträuchern.
    Eine Taube flog über sie hinweg. Gali legte sich die Haare über die Augen. Sie roch das Shampoo; sie machte einen Schritt nach vorn und sprang.
    Eine Sekunde fühlte es sich an, als würde sie in der Luft laufen, und es war so unnatürlich. Gali war klar, dass etwas schiefgelaufen war, das nicht wieder geradegebogen werden konnte. Ihre Haut wurde in Richtung Sonne gesaugt.
    Sie landete mit einem Klatscher im Wasser. Ein warmes Prickeln wie von federleichten Feen wanderte über ihren ganzen Körper. Die Zehen rollten sich ein. Die Schultern bogen sich. Der Musikantenknochen sang. Mit offenem Mund schoss sie aus dem grünen Wasser und schnappte nach Luft.
    Aber den zweiten Orgasmus hatte Gali an dem Tag in der zehnten Klasse, als sie nach der Geografiestunde bei Tom gewesen war.
    Und da war sie komplett nackt, und draußen schien noch die Sonne.
    Und jetzt wollte sie an Tom denken.
    »Du bist so stark«, sagte er, als sie sich an diesem Nachmittag in der zehnten Klasse in seinem Zimmer wiederfand.
    »Findest du?«, fragte sie. Sie hatte Angst, ihr könnte schlecht werden. Sie hatte Angst, Tom könnte sie küssen, sie hatte Angst, er könnte es nicht tun, sie hatte Angst, sie könnte etwas zwischen den Zähnen haben, sie hatte Angst, zu groß zu sein, sie hatte Angst vor den Gefahren der Stadt, wie laut die Stadt doch war, selbst jetzt noch in Toms Zimmer.
    »Du siehst so stark aus«, sagte Tom und trat so nah an sie heran, dass sich ihre Nasenspitzen berührten. »Siehst du«, sagte er und zeigte zum Spiegel an der Wand. »Du siehst so stark aus.«
    Gali konnte im Spiegel nur ihr altes Selbst sehen. Aber dann sah sie Tom im Spiegel, der sie

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