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Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition)

Titel: Das Volk der Ewigkeit kennt keine Angst: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shani Boianjiu
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umdrehe. Ich rieche die Industrieseife der Azrieli Mall an deinen Händen. Ich rieche den Urin, der in die ausgefransten Hosenränder deiner Schlagjeans eingezogen ist. Du bist genau hier.
    Der Geruch ist das Gegenteil von Erinnerung. Etwas, das anders ist als anders.

Wirkmittel zur Auflösung von Demonstrationen
    Schock
    Offizierin Lea konnte ihren eigenen Körper nicht mehr spüren. Mit einer Zeitung, die sie gegen die Sterne gerichtet hielt, lag sie rücklings auf einer Scharfschützen-Absperrung. Sie musste die Arme ausstrecken, um die breite Zeitung über ihrem Kopf zu halten.
    »Oh«, sagte sie.
    »Das war nicht die Armee«, sagte Tomer. Er schnippte den Zigarettenstummel runter auf den Asphalt der Route 433. Er sprach über Huda, das kleine palästinensische Mädchen am Strand. Das Zeitungsbild zeigte sie schreiend auf rotem Sand neben den Körperteilen von sechs Menschen, die ihre Familie gewesen waren.
    »Ich weiß«, sagte sie. »Das ist montiert.«
    Die Welt behauptete, die israelische Armee hätte sie bei einem Luftangriff getötet, aber die israelische Armee wusste, dass die Familie von einer in der Erde schlummernden Granate getötet wurde, die militante Palästinenser am Meer vergraben hatten. Lea schaute zu Tomer. Die orangefarbenen Straßenlaternen beleuchteten ihn von hinten, sodass er aussah wie ein Dämon. Er war neunzehn, zwei Jahre jünger als die Offizierin.
    »Ich kann meinen Körper auf einmal nicht mehr spüren«, sagte sie.
    »Schon wieder?«
    Lea sagte oft, sie könnte ihren Körper nicht mehr spüren. Dass sie ihn bewegen, aber nicht spüren könnte. Dass das zwei unterschiedliche Dinge wären. Er stellte das nie infrage; er boxte sie. Genau das wollte sie.
    Tomer nahm das Gewehr vom Rücken und drückte ihre Schulterblätter auf den Beton. Als beide die Hosen unten hatten, umklammerte er erst ihren Nacken und hielt dann ihre Arme fest. Tagsüber sagte er »Lea« zu ihr, weil sie so hieß, und weil sie sagte, er dürfte das. Nachts, wenn er so fest an ihren Haaren zog, dass ihre Kopfhaut spannte, sagte er »Offizierin« zu ihr, weil sie sagte, er sollte sie dann so nennen, und weil sie genau das war. Sie wollte, dass er sie dann so nannte, weil sie wusste, wenn er ihr so nah war und so rau, musste sie ihn auf Distanz halten. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie das warme Licht, das in den Dörfern anderer Leute aus den Häusern kam.
    Sie wusste, ihre Tage beim Militär waren gezählt, aber sie fühlte es nicht. Sie konnte sich nichts mehr vorstellen und sich auch an nichts von dem erinnern, was sie vor ihrer Zeit als Soldatin gewollt hatte, und es fiel ihr schwer, etwas zu finden, das sie in ihrem zukünftigen Leben als Zivilistin wollen könnte. Wahrscheinlich sollte sie eine Familie wollen, oder ein Studium an einer guten Uni, aber das leitete sie nur von den Gegebenheiten um sich herum ab. Dieses Wollen war nichts, was sie in sich fühlte. Als sie anfing, sich so zu fühlen, weniger als ein Jahr nach Dienstantritt, nachdem der Hals eines der Soldaten an ihrem Checkpoint fast durchtrennt worden war, hatte sie beschlossen, dass es das einzig Sinnvolle, das sie wirklich wollen konnte, in der Armee geben musste, darum beschloss sie, Offizierin zu werden. Sie wollte kein stumpfer Soldat vom Checkpoint mehr sein, nicht zu denen gehören, denen man fast den Hals durchtrennte. Sie wollte Soldaten anschreien können, die ihren Hals dorthin steckten, wo er vielleicht durchtrennt wurde. Sie hatte sich irgendwann damit abgefunden, ihre Dienstzeit vollständig in der für die Grenzübergänge und Checkpoints zuständigen Einheit zu verbringen, fand aber, wenn sie schon an einem Checkpoint sein musste, konnte sie dort genauso gut als Offizierin sein.
    Tomer machte fast alles, worum sie ihn bat, ohne viele Fragen zu stellen. Er war ein vernünftiger Neunzehnjähriger. Und Lea war trotz allem auf diese gewisse Weise schön. Eine kühle, dröhnende und unbeirrbare Schönheit mit großen Brüsten. Außerdem war sie der einzige weibliche Farbtupfer in seinen Tagen. Und so brachte er seine eigene Zeit rum – die Zeit als Soldat.
    Am nächsten Morgen wachte Lea allein auf ihrem Feldbett auf. Sie hatte ein eigenes Zelt, weil sie die einzige Frau auf diesem Posten war.
    Es war ein seltsamer Einsatzort. An der Route 433 florierte überall das Seltsame. Sie führte durch die Westbank, war aber seit der Erschießung der Motorradfahrer 2002 für Palästinenser gesperrt. Aus irgendeinem Grund brauchte

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